Pandemonium
die Deliria … aber gar nicht alle schlecht oder hoffnungslos. Es heißt doch, dass früher angeblich alle unglücklich waren, oder? Alle waren krank. Aber einige der Lieder …« Er bricht ab und singt leise: »All you need is love …«
Ein Schauer durchfährt mich. Es ist eigenartig, dieses Wort laut ausgesprochen zu hören. Julian verfällt eine Weile in Schweigen. Dann fährt er noch leiser fort. »Kannst du das glauben? All you need … « Seine Stimme wird leiser, als wäre ihm bewusst geworden, wie nah wir beieinanderliegen, und wäre weggerückt. In der Dunkelheit kann ich kaum seine Silhouette erkennen. »Wie auch immer, irgendwann hat mich mein Vater erwischt. Ich hatte gerade die Geschichte angefangen, von der ich dir erzählt habe – Der Zauberer von Oz hieß sie. Ich habe meinen Vater nie in meinem Leben so wütend erlebt. Meistens ist er ziemlich ruhig, weißt du, dank des Heilmittels. Aber an jenem Tag hat er mich ins Wohnzimmer gezerrt und derart verprügelt, dass ich ohnmächtig wurde.« Das erzählt Julian ausdruckslos, ohne Gefühle, und mein Magen verkrampft sich voller Hass auf seinen Vater, auf alle, die so sind wie sein Vater. Sie predigen Solidarität und tun, als wären sie Heilige, und bei sich zu Hause und in ihren Herzen prügeln sie und prügeln und prügeln.
»Er hat gesagt, das würde mich lehren, wozu verbotene Bücher in der Lage seien«, sagt Julian und dann, beinahe nachdenklich: »Am nächsten Tag hatte ich meinen ersten Anfall.«
»Das tut mir leid«, flüstere ich.
»Ich mache ihn nicht dafür verantwortlich oder so«, sagt Julian schnell. »Die Ärzte haben gesagt, dass mir der Anfall vielleicht sogar das Leben gerettet hat. So haben sie den Tumor entdeckt. Außerdem hat er nur versucht, mir zu helfen. Mich vor Gefahr zu bewahren, weißt du.«
In diesem Augenblick bricht mir seinetwegen das Herz, und anstatt auf der Flut dieses Gefühls hinweggetragen zu werden, denke ich an die glatten Wände des Hasses und denke daran, eine Treppe hinaufzusteigen, von meinem Turm aus auf Julians Vater zu zielen und ihn brennen zu sehen.
Nach einer Weile sagt Julian: »Hältst du mich für einen schlechten Menschen?«
»Nein«, sage ich. Ich muss das Wort am Felsbrocken in meiner Kehle vorbeizwängen.
Ein paar Minuten lang atmen wir gemeinsam, im Gleichtakt. Ich frage mich, ob es Julian auffällt.
»Ich habe nie herausgefunden, warum das Buch auf dem Index steht«, sagt Julian nach einer Weile. »Die entsprechende Stelle muss später gekommen sein, nach der Hexe und den Schuhen. Ich habe seitdem dauernd darüber nachgedacht. Komisch, wie einen bestimmte Dinge nicht mehr loslassen.«
»Kannst du dich an irgendwelche anderen Geschichten erinnern, die du gelesen hast?«, frage ich.
»Nein. Und auch an keins der Lieder. Nur an diese eine Zeile … All you need is love .« Er singt die Melodie erneut.
Wir liegen eine Weile schweigend da und ich gleite langsam in den Schlaf. Ich gehe das glitzernde Silberband eines Flusses entlang, der sich durch den Wald schlängelt, und trage Schuhe, die in der Sonne funkeln, als wären sie aus Münzen …
Ich gehe unter einem Ast hindurch und die Blätter verfangen sich in meinen Haaren. Ich greife hinauf und spüre eine warme Hand – Finger …
Erschrocken komme ich wieder zu mir. Julians Hand schwebt wenige Zentimeter über meinem Kopf. Er hat sich bis an den Rand seiner Pritsche gerollt. Ich kann die Wärme seines Körpers spüren.
»Was machst du da?« Mein Herz hämmert rasend schnell. Ich kann seine Hand ganz leicht neben meinem rechten Ohr spüren, sie zittert.
»Tut mir leid«, flüstert er, zieht seine Hand jedoch nicht weg. »Ich …« Ich kann sein Gesicht nicht sehen. Er ist ein langer gebogener Schatten, wie aus glänzendem Holz. »Du hast schönes Haar«, sagt er schließlich.
Meine Brust fühlt sich an, als würde sie zusammengepresst. Der Raum kommt mir wärmer vor denn je.
»Darf ich?«, fragt er so leise, dass ich ihn kaum hören kann, und ich nicke, weil ich kein Wort herausbringe. Meine Kehle wird ebenfalls zusammengepresst.
Sanft, zart senkt er die Hand die letzten Zentimeter. Einen Moment lässt er sie dort ruhen und ich höre erneut das kurze Ausatmen, eine Art Erlösung, und alles in meinem Körper ist still, wird weiß und heiß, ein Sternenregen, eine lautlose Explosion. Dann streicht er mit den Fingern durch meine Haare und ich entspanne mich, fühle mich nicht mehr gequetscht und ich atme und bin am
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