Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
Vom Netzwerk:
gefällt mir nicht.
    Um mich zu beschäftigen, packe ich meinen Rucksack aus und wieder ein. Dann packe ich ihn wieder aus und breite seinen Inhalt auf dem Boden aus, als wäre die traurige Ansammlung von Gegenständen eine Hieroglyphe, die plötzlich eine neue Bedeutung annehmen könnte. Zwei Müsliriegelverpackungen. Ein Fläschchen Wimperntusche. Eine leere Wasserflasche. Das Buch Psst . Ein Regenschirm. Ich stehe auf, gehe einmal im Kreis und setze mich wieder.
    Ich meine einen gedämpften Schrei durch die Wände zu hören, aber ich rede mir ein, dass ich mir das nur einbilde.
    Ich lege mir Das Buch Psst auf den Schoß und blättere darin. Obwohl mir die Psalmen und Gebete immer noch vertraut sind, kommen mir die Worte eigenartig vor und sie ergeben keinen Sinn: Wie wenn man an einen Ort zurückkehrt, an dem man seit der Kindheit nicht mehr war, und feststellt, dass alles enttäuschend klein ist. Es erinnert mich daran, wie Hana mal ein Kleid ausgrub, das sie in der ersten Klasse dauernd getragen hatte. Wir waren in ihrem Zimmer, langweilten uns und kramten in ihren alten Sachen herum, und wir lachten und lachten und sie sagte immer wieder: Ich kann einfach nicht glauben, dass ich wirklich mal so klein war.
    Meine Brust beginnt zu schmerzen. Es kommt mir unmöglich vor, undenkbar lange her, dass ich in einem Zimmer mit Teppich sitzen konnte, dass wir Tage damit verbringen konnten, gemeinsam herumzukramen, ohne sonst etwas zu tun. Mir war damals nicht bewusst, was das für ein Luxus war: sich mit seiner besten Freundin langweilen zu können; Zeit zu haben, die man vergeuden kann.
    Ungefähr in der Mitte des Buchs Psst bemerke ich eine umgeknickte Ecke. Ich halte inne. In einem Absatz sind mehrere Wörter energisch unterstrichen worden. Der Auszug stammt aus Kapitel 22: Sozialgeschichte.
    »Wenn man bedenkt, dass die Gesellschaft in Unwissenheit verharrt, muss man auch berücksichtigen, wie lange sie in Täuschung verharrt; dann wird Dummheit zu Unausweichlichkeit und alle Missstände werden zu Werten (Wahl wird zu Freiheit und Liebe zu Glück), und so gibt es keine Möglichkeit zu entkommen.«
    Drei Worte waren kräftig unterstrichen: Man. Muss. Entkommen.
    Ich blättere ein paar Kapitel weiter und stoße auf eine weitere umgeknickte Seite, auf der Wörter eingekreist wurden, scheinbar willkürlich. Der gesamte Absatz lautet: »Die Instrumente einer gesunden Gesellschaft sind Gehorsam, Pflichtgefühl und Einverständnis. Die Verantwortung liegt sowohl bei der Regierung als auch bei ihren Bürgern. Die Verantwortung liegt bei dir.«
    Irgendjemand – Tack? Raven? – hat verschiedene Wörter in dem Absatz eingekreist. Die Instrumente. Sind. Bei dir.
    Jetzt überprüfe ich jede Seite. Irgendwie wussten sie, dass das passieren würde; sie wussten, dass ich entführt werden könnte oder würde. Kein Wunder, dass Tack darauf bestanden hat, dass ich Das Buch Psst mitnahm; er hat Hinweise für mich darin hinterlassen. Die reine Freude steigt in mir auf. Sie haben mich nicht vergessen, mich nicht aufgegeben. Bis jetzt war mir gar nicht bewusst gewesen, wie große Angst ich hatte – bis auf Tack und Raven habe ich niemanden mehr. Im letzten Jahr sind sie alles für mich geworden: Freunde, Eltern, Geschwister, Mentoren.
    Es gibt nur noch eine weitere gekennzeichnete Seite. Neben Psalm 37 ist ein großer Stern gemalt worden.
    In Sturm und Regen, Wind und Wetter;
    Soll Ruhe mein Begleiter sein;
    Ein warmer, schwerer, trock’ner Stein;
    Die Wurzel, der Quell, vor Schmerz der Retter.
    Nachdem ich den Psalm mehrmals gelesen habe, kehrt die Enttäuschung zurück. Ich hatte auf eine verschlüsselte Nachricht gehofft, aber die kann ich dem Psalm nicht entnehmen. Vielleicht wollte Tack mir nur zu verstehen geben, Ruhe zu bewahren. Oder vielleicht wurde der Stern schon vorher dort hineingemalt und hat gar nichts damit zu tun; oder vielleicht habe ich alles missverstanden und die Markierungen sind alle willkürlich, Zufall.
    Aber nein. Tack hat mir das Buch gegeben, weil er wusste, dass ich es vielleicht brauchen würde. Tack und Raven sind sorgfältig. Sie tun nichts willkürlich oder absichtslos. Wenn man auf des Messers Schneide lebt, kann man es sich nicht leisten, im Dunkeln zu tappen.
    In Sturm und Regen, Wind und Wetter …
    Regen.
    Tacks Schirm – er bestand darauf, dass ich ihn mitnahm, an einem wolkenlosen Tag.
    Meine Hände zittern, als ich den Schirm in die Hand nehme und ihn genauer untersuche. Beinahe sofort

Weitere Kostenlose Bücher