Pandemonium
entdecke ich einen schmalen Schlitz entlang des Griffs. Er wäre mir nie aufgefallen, wenn ich nicht danach gesucht hätte. Ich schiebe meinen Fingernagel in den winzigen Spalt und versuche den Griff aufzuklappen, aber es rührt sich nichts.
»Scheiße«, sage ich laut, wovon ich mich etwas besser fühle. »Scheiße, Scheiße, Scheiße.« Jedes Mal, wenn ich es sage, versuche ich den Schirm auseinanderzuziehen oder zu drehen, aber der Holzgriff bleibt komplett unversehrt, glänzend und hübsch.
»Scheiße!« Irgendetwas in mir zerspringt – es ist die Enttäuschung, das Warten, die lastende Stille. Ich werfe den Schirm mit voller Kraft gegen die Wand. Er schlägt krachend auf. Als er auf dem Boden auftrifft, klappen die beiden Hälften des Griffs auseinander und ein Messer fällt klirrend zu Boden. Als ich es aus seiner Lederscheide ziehe, erkenne ich es: Es ist eins von Tacks. Es hat einen geschnitzten Beingriff und eine fürchterlich scharfe Klinge. Ich habe mal gesehen, wie Tack einen toten Hirsch vom Hals bis zum Schwanz damit sauber aufgeschlitzt hat. Jetzt ist die Klinge so blank poliert, dass ich mich darin spiegeln kann.
Plötzlich höre ich ein Geräusch vom Gang: trampelnde Schritte und außerdem ein lautes schleifendes Geräusch, als würde etwas auf die Zelle zugezerrt. Ich spanne mich an, umklammere das Messer fest, immer noch in der Hocke – ich könnte rausrennen, wenn die Tür aufgeht; ich könnte mich auf die Schmarotzer stürzen, das Messer hin und her ziehen, ihnen ein Auge ausstechen oder zumindest einen Schnitt platzieren, fliehen – aber bevor ich noch Zeit habe, genauer zu überlegen oder mich zu entscheiden, geht die Tür auf und Julian stolpert herein, halb bewusstlos und so zerschunden und blutig, dass ich ihn nur an seinem Hemd erkenne, und dann wird die Tür wieder zugeknallt.
»O Gott.«
Julian sieht aus, als wäre er von einem wilden Tier angefallen worden. Seine Kleider sind blutbefleckt und einen entsetzlichen Augenblick lang werde ich in die Vergangenheit katapultiert, zurück zu dem Zaun, wo ich etwas Rotes durch Alex’ T-Shirt sickern sah und wusste, er würde sterben. Dann verblasst die Vision und es ist wieder Julian, auf Händen und Knien, der hustet und Blut auf den Boden spuckt.
»Was ist passiert?« Ich schiebe das Messer schnell unter meine Matratze und knie mich neben ihn. »Was haben sie mit dir gemacht?«
Ein gurgelndes Geräusch steigt aus seiner Kehle auf, gefolgt von einem weiteren Hustenanfall. Julian sinkt mit einem dumpfen Schlag auf die Ellbogen, und meine Brust wird von flatternder Angst erfüllt. Er wird sterben , denke ich, und die Gewissheit treibt auf einer Welle aus Panik.
Nein. Dies hier ist was anderes. Ich kann es in Ordnung bringen.
»Egal. Nicht sprechen«, sage ich. Er liegt jetzt auf dem Boden, beinahe in Embryohaltung. Sein linkes Augenlid zuckt und ich bin mir nicht sicher, wie viel er hört oder versteht. Ich bette seinen Kopf vorsichtig auf meinen Schoß und helfe ihm dabei, sich auf den Rücken zu rollen, wobei ich den Schrei zurückhalte, der sich auf meine Lippen drängt, als ich sein Gesicht sehe: eine zerschlagene, blutige Masse. Sein rechtes Auge ist völlig zugeschwollen und aus einem tiefen Schnitt über seiner rechten Augenbraue strömt das Blut.
»Verdammt«, sage ich. Ich habe schon früher schlimme Verletzungen gesehen, aber es gab immer die Möglichkeit, an irgendwelche Erste-Hilfe-Utensilien zu kommen, wie primitiv sie auch sein mochten. Hier gibt es gar nichts. Und Julians Körper macht seltsame zuckende Bewegungen. Ich fürchte, er bekommt einen Anfall.
»Bleib bei mir«, sage ich und versuche meine Stimme leise und ruhig zu halten, nur für den Fall, dass er bei Bewusstsein ist und mich hört. »Du musst dein Hemd ausziehen, okay? Bleib so ruhig wie möglich liegen. Ich mache dir eine Kompresse. Um die Blutung zu stoppen.«
Ich knöpfe Julians dreckiges Hemd auf. Wenigstens ist seine Brust unversehrt, abgesehen von ein paar großen, übel aussehenden Blutergüssen. Das ganze Blut auf der Kleidung muss von seinen Gesichtsverletzungen stammen. Die Schmarotzer haben ihm eine Abreibung verpasst, aber sie wollten ihn nicht ernsthaft verletzen. Als ich die Ärmel über seine Arme schiebe, stöhnt er auf, aber es gelingt mir, ihm das Hemd auszuziehen. Ich drücke es fest auf die Wunde an seiner Stirn und wünschte, ich hätte ein sauberes Tuch. Er stöhnt erneut auf.
»Schsch«, sage ich. Mein Herz hämmert. Seine Haut
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