Pandemonium
Der Flur vor der Zelle ist lang, schmal und gut beleuchtet: Vier Türen, alle geschlossen und aus Metall, befinden sich zu unserer Linken und am Ende des Flurs ist eine weitere Stahltür. Das bringt mich etwas aus dem Konzept. Ich hatte angenommen, unsere Zelle würde einfach von einer der alten U-Bahn-Röhren abgehen und vor der Tür würden uns nichts als Dunkelheit und Feuchtigkeit erwarten. Aber wir sind offensichtlich in einem ganzen unterirdischen Komplex.
Durch eine der geschlossenen Türen links von uns dringen Stimmen. Ich meine, das tiefe monotone Brummen des Albinos zu erkennen. Ich schnappe nur vereinzelte Wörter auf: »… warten … von Anfang an eine blöde Idee.« Darauf folgt eine einsilbige Antwort, die Stimme eines weiteren Mannes. Wenigstens weiß ich jetzt, wo der Albino ist, obwohl der Verbleib des gepiercten Mädchens unklar bleibt. Das heißt, dass mindestens vier Schmarotzer an unserer Entführung beteiligt waren. Sie organisieren sich offensichtlich immer besser: ein ganz, ganz schlechtes Zeichen.
Während wir weitergehen, werden die Stimmen lauter und vernehmbarer. Die Schmarotzer streiten.
»Wir bleiben bei der ursprünglichen Abmachung …«
»Bin niemandem … schuldig …«
Das Herz schlägt mir bis zum Hals, das Atmen fällt mir schwer. Gerade als ich an der Tür vorbeihuschen will, höre ich von drinnen einen lauten Knall. Ich erstarre und muss unweigerlich an einen Schuss denken. Die Türklinke klappert.
Mein Inneres löst sich auf und ich denke: Das war’s jetzt. Genau hier.
Dann sagt die Stimme, die ich nicht kenne, laut: »Komm, jetzt reg dich nicht auf. Lass uns darüber reden.«
»Ich hab die Schnauze voll vom Reden.« Das ist der Albino. Was immer dadrin los war, es war kein Schuss, den ich gehört habe.
Julian neben mir ist ebenfalls erstarrt. Wir haben uns beide instinktiv an die Wand gepresst – nicht, dass uns das irgendwas nützen würde, wenn die Männer in den Flur kommen sollten. Unsere Arme berühren sich gerade so und ich kann den leichten Flaum auf seinen Unterarmen spüren. Es ist, als würden kleine elektrische Impulse davon ausgehen. Ich rücke ein Stück von ihm ab.
Die Türklinke klappert ein letztes Mal und dann sagt der Albino: »Also gut, ich höre.« Offenbar geht er zurück in den Raum und der Krampf in meiner Brust löst sich. Ich gebe Julian ein Zeichen. Weiter. Er nickt. Er hat die Fäuste geballt. Seine Fingerknöchel sind kleine weiße Halbmonde.
Alle anderen Türen im Flur sind geschlossen und wir finden keinen Hinweis auf weitere Schmarotzer. Ich frage mich, was hinter den Türen ist. Vielleicht liegen in allen Räumen Gefangene auf Pritschen und warten darauf, dass Lösegeld für sie gezahlt wird oder sie umgebracht werden. Von dem Gedanken wird mir übel, aber ich kann nicht allzu lange nachdenken. Eine weitere Regel, die ich in der Wildnis gelernt habe, besagt: Du musst dich zuallererst um dich selbst kümmern.
Das ist die Kehrseite der Freiheit: Wenn man ganz frei ist, ist man auch ganz allein.
Wir erreichen das Ende des Flurs. Ich lege die Hand auf den Türgriff und ziehe. Nichts. Da sehe ich das kleine Tastenfeld direkt über dem Griff, wie früher bei Hana an der Haustür.
Man braucht einen Code.
Julian fällt das offenbar gleichzeitig auf wie mir, denn er murmelt: »Scheiße. Scheiße.«
»Warte, ich muss nachdenken«, flüstere ich zurück und versuche ruhig zu klingen. Aber in meinem Bewusstsein stürmt der immer gleiche Gedanke wie ein Schneesturm auf mich ein und lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Ich bin am Arsch. Ich sitze hier fest und wenn sie mich finden, muss ich für einen verletzten und gefesselten Wachmann büßen. Und danach werden sie nicht mehr so unvorsichtig sein. Keine Katzenklappen mehr in meiner Zellentür.
»Was machen wir jetzt?«, fragt Julian.
»Wir?« Ich werfe ihm einen Blick zu. Auf seinem Scheitel klebt getrocknetes Blut und ich wende den Blick ab, damit er mir nicht noch leidtut. »Sind wir jetzt ein Team?«
»Wohl oder übel«, sagt er. »Wir müssen uns gegenseitig helfen, wenn wir hier rauswollen.« Er legt mir die Hände auf die Ellbogen und schiebt mich sanft, aber bestimmt zur Seite. Die Berührung überrascht mich. Er muss es wirklich ernst meinen damit, dass wir zusammenarbeiten müssen. Und wenn er das kann, kann ich es auch.
»Das lässt sich nicht aufbrechen«, sage ich. »Wir brauchen den Code.«
Julian fährt mit den Fingern über die Tastatur. Dann tritt er
Weitere Kostenlose Bücher