Pandemonium
er denkt.
Unter dem Verbandsmaterial ist ein Regalbrett, das bis auf eine einzelne Holzkiste leer ist. Ich gehe neugierig in die Hocke und klappe den Deckel der Kiste auf. Mir stockt der Atem.
Personalausweise. Die Kiste ist mit Hunderten und Aberhunderten Personalausweisen gefüllt, die mit Gummibändern zusammengehalten werden. Ein Stapel VDFA-Abzeichen ist auch dabei, sie leuchten hell in der Dunkelheit.
»Julian«, sage ich, »sieh dir das an.«
Er steht neben mir und sieht wortlos zu, als ich all die laminierten Karten durchblättere, eine nebulöse Abfolge aus Gesichtern, Daten, Identitäten.
»Komm«, sagt er nach einer Weile. »Wir müssen uns beeilen.«
Ich suche schnell ein halbes Dutzend Personalausweise raus und versuche dabei, Mädchen auszuwählen, die ungefähr in meinem Alter sind. Ich schlinge ein Gummiband darum und stecke sie in die Tasche. Ein VDFA-Abzeichen nehme ich auch mit.
Schließlich die Waffen. Es gibt ganze Kisten voll davon: alte, staubbedeckte Gewehre, die wie ein Gewirr aus dicken Dornen aufgetürmt sind; gut geölte handliche Pistolen; schwere Schläger und Schachteln mit Munition. Ich reiche Julian eine Pistole, nachdem ich mich vergewissert habe, dass sie geladen ist. Dann stecke ich eine Schachtel Patronen in meinen Rucksack.
»Ich hab noch nie geschossen«, sagt Julian und hält die Pistole vorsichtig in der Hand, als hätte er Angst, sie würde von allein losgehen. »Du?«
»Ein paarmal«, sage ich. Er knabbert an seiner Unterlippe. »Dann nimm du sie«, entgegnet er. Ich stecke die Pistole in den Rucksack, obwohl ich es nicht gut finde, so schwer beladen zu sein.
Messer dagegen sind nützlich, und zwar nicht nur, um Leute zu verletzen. Ich finde ein Klappmesser und stecke es unter das Gummi des Sport-BHs. Julian nimmt sich auch ein Klappmesser, das er in die Tasche steckt.
»Fertig?«, fragt er, nachdem ich den Rucksack aufgesetzt habe.
Da wird es mir klar: Die flirrende Sorge, die ich vorhin schon gespürt habe, schwillt an und schlägt über mir zusammen. Hier stimmt was nicht – nichts stimmt hier. Es ist alles zu gut organisiert. Es gibt zu viele Räume, zu viele Waffen, zu viel Ordnung.
»Sie müssen Hilfe gehabt haben«, platze ich heraus. »Die Schmarotzer hätten das hier nie allein geschafft.«
»Die wer?«, fragt Julian ungeduldig und wirft einen ängstlichen Blick zur Tür.
Ich weiß, dass wir losmüssen, aber ich kann mich nicht rühren. Ein Kribbeln steigt mir von den Zehen in die Beine hinauf. Noch ein Gedanke blitzt jetzt auf – ein kurzer Eindruck, etwas, das ich gesehen oder woran ich mich erinnert habe. »Schmarotzer. Sie sind ungeheilt.«
»Invaliden«, sagt Julian ausdruckslos. »Wie du.«
»Nein. Nicht wie ich und keine Invaliden. Anders.« Ich kneife die Augen zusammen und die Erinnerung wird fassbar: wie ich dem Schmarotzer die Spitze meines Messers unterhalb des Kiefers an den Hals gepresst habe, direkt über den hellen blauen Markierungen, die mir irgendwie vertraut vorkamen …
»O Gott.« Ich schlage die Augen auf. Meine Brust fühlt sich an, als trommelte jemand darauf herum.
»Lena, wir müssen hier weg.« Julian will nach meinem Arm greifen, aber ich entwinde mich ihm.
»Die VDFA.« Ich bekomme die Worte kaum heraus. »Der Typ – der Wachmann da hinten, der, den wir gefesselt haben – hatte eine Tätowierung mit einem Adler und einer Spritze. Das ist das Emblem der VDFA.«
Julian erstarrt. Es ist, als hätte ihn ein Stromstoß durchfahren. »Das muss Zufall sein.«
Ich schüttele den Kopf. Wörter und Gedanken kreisen in meinem Kopf, ein unaufhörlicher Strom. Es lässt nur einen Schluss zu. Alles ergibt Sinn: Es war von Lohn die Rede; diese ganze Ausrüstung; die Tätowierung; die Kiste mit den Abzeichen. Dieser Komplex, die Sicherheitsvorkehrungen – all das kostet Geld. »Sie müssen zusammenarbeiten. Ich weiß nicht, warum oder wozu oder …«
»Nein.« Julians Stimme ist leise und stahlhart. »Du irrst dich.«
»Julian …«
Er unterbricht mich. »Du irrst dich, klar? Das ist unmöglich.«
Ich zwinge mich, nicht den Blick abzuwenden, obwohl hinter seinen Augen etwas Eigenartiges vorgeht, ein Fließen und Wirbeln, das mich schwindeln lässt, als stünde ich am Rande einer Klippe und liefe Gefahr abzustürzen.
So stehen wir da – erstarrt, wie ein lebendes Bild –, als die Tür krachend aufgeht und zwei Schmarotzer in den Raum platzen.
Einen Moment lang rührt sich niemand und ich habe gerade genug
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