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Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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Hol keine Verstärkung. Mach gleich die Tür auf. Los, los, los.
    Schließlich ertönt ein tiefer Seufzer und Schlüssel klappern; außerdem höre ich ein Klicken, ich nehme an, er entsichert seine Waffe.
    Meine Wahrnehmung ist geschärft, als blickte ich durch ein Mikroskop. Alles geschieht wie in Zeitlupe. Er wird die Tür öffnen.
    Der Schlüssel dreht sich im Schloss und mit einem kurzen Schrei rappelt sich Julian erschrocken auf. Einen Moment zögert der Wachmann. Dann wird die Tür langsam aufgedrückt, auf mich zu – ich presse mich dahinter an die Wand.
    Und plötzlich kippt die Wippe zur anderen Seite: Die Sekunden folgen rasend schnell aufeinander. Alles läuft instinktiv und verschwommen ab, in einem einzigen auf mich einstürzenden Moment: Die Tür geht ganz auf, bis wenige Zentimeter vor meinem Gesicht, als er einen Schritt in den Raum macht und sagt: »Okay, ich bin ganz Ohr«, und dann stoße ich mit beiden Händen gegen die Tür, knalle sie gegen ihn, höre seinen kurzen Ausruf, einen Fluch und ein Stöhnen. Julian sagt: »Verdammte Scheiße, verdammte Scheiße.«
    Ich springe, ohne nachzudenken, hinter der Tür vor und lande auf dem Rücken des Schmarotzers. Er wankt hin und her und hält sich den Kopf, wo ihn die Tür getroffen haben muss. Ich werfe ihn zu Boden, drücke ihm ein Knie in den Rücken und halte ihm das Messer an die Kehle.
    »Keine Bewegung.« Ich zittere, hoffe aber, dass er es nicht merkt. »Keinen Mucks. Denk noch nicht mal daran zu schreien. Sei brav und rühr dich nicht, dann geschieht dir nichts.«
    Julian sieht mir mit großen Augen schweigend zu. Der Schmarotzer hält tatsächlich still. Ich drücke ihm weiterhin das Knie in den Rücken und die Messerspitze an den Hals, nehme ein Ende des Nylonbands zwischen die Zähne, drehe ihm die linke Hand auf den Rücken und dann die rechte und halte sie beide mit dem Knie fest.
    Julian löst sich plötzlich von der Wand und kommt zu mir rüber.
    »Was willst du?«, knurre ich zwischen dem Stoff und meinen zusammengebissenen Zähnen hindurch. Mit Julian und dem Schmarotzer gleichzeitig würde ich nicht fertigwerden. Wenn er sich einmischt, ist alles vorbei.
    »Gib mir das Seil«, sagt er ruhig. Einen Augenblick rühre ich mich nicht und er fügt hinzu: »Ich helfe dir.«
    Ich reiche ihm wortlos das Band und er kniet sich neben mich. Während ich den Schmarotzer weiter zu Boden drücke, fesselt Julian ihn an Händen und Füßen.
    Ich knie noch immer auf dem Schmarotzer und halte ihn so ruhig. Ich stelle mir die Lücken zwischen den Rippen vor, die weiche Haut und die Schichten aus Fett und Fleisch – und unter allem das Herz, das sich zusammenzieht und Leben durch den Körper pumpt. Nur ein kurzer Stich und …
    »Gib mir das Messer«, sagt Julian.
    Ich umklammere den Griff fester. »Wozu?«
    »Gib es mir einfach«, sagt er.
    Ich zögere, dann reiche ich es ihm. Er schneidet das übrige Nylonband ab – er ist ungeschickt und braucht eine ganze Weile – und gibt mir dann das Messer und den Nylonstreifen.
    »Du solltest ihn knebeln«, sagt Julian sachlich. »Damit er nicht um Hilfe rufen kann.«
    Er ist überraschend gefasst. Ich ziehe den Kopf des Schmarotzers nach oben und stecke ihm hastig den improvisierten Knebel in den Mund. Er tritt um sich, zappelt wie ein Fisch an Land, aber es gelingt mir, den Stoff hinter seinem Kopf zu verknoten. Die Fesseln sind nicht sehr stabil – in zehn, fünfzehn Minuten wird er die Hände wieder frei haben –, aber das sollte reichen.
    Ich stehe schnell auf und werfe mir den Rucksack über die Schulter. Die Tür zur Zelle ist immer noch weit offen. Allein das – die offene Tür – erfüllt mich mit einem solchen Glücksgefühl, dass ich schreien könnte. Ich stelle mir vor, wie Raven und Tack mir anerkennend zusehen.
    Ich werde euch nicht enttäuschen.
    Ich drehe mich um. Julian ist auch aufgestanden.
    »Kommst du jetzt mit oder was?«, frage ich.
    Er nickt. Er sieht immer noch furchtbar aus, seine Augen sind kaum mehr als Schlitze, aber seine zusammengepressten Lippen zeigen Entschlossenheit.
    »Dann lass uns gehen.« Ich stecke das Messer samt Futteral in den Hosenbund. Ich darf nicht daran denken, ob Julian mich aufhält. Vielleicht ist er ja sogar von Nutzen. Immerhin ist er ein weiteres Ziel; wenn ich verfolgt oder überfallen werde, kann er als Ablenkung dienen.
    Wir schließen die Zellentür vorsichtig hinter uns, was die gedämpften Laute des Schmarotzers vollständig ausblendet.

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