Pandemonium
den Geschmack nach Sumpf.
»Du lässt mir keine Wahl«, keucht der Schmarotzer und ich klappe die Augen auf. Seine Stimme hat einen gewissen Unterton – Bedauern vielleicht oder etwas Entschuldigendes –, mit dem ich nicht gerechnet hätte. Und damit kehrt die Hoffnung zurück und auch die Angst: Bitte-bitte-bitte-lass-mich-am-Leben.
Aber dann holt er tief Luft, spannt sich an, die Messerspitze durchsticht meine Haut und es ist zu spät …
Da bricht er plötzlich zuckend über mir zusammen.
Das Messer fällt ihm klappernd aus der Hand. Seine Augen verdrehen sich auf schreckliche Weise zur Decke, der leere Blick einer Puppe. Er kippt langsam nach vorn, auf mich drauf, und presst mir die Luft aus der Lunge. Julian steht schwer atmend und zitternd über ihm. Aus dem Rücken des Schmarotzers ragt ein Messergriff.
Auf mir liegt ein toter Mann. Hysterie steigt in meiner Brust hoch und überwältigt mich, und plötzlich wiederhole ich: »Schaff ihn runter von mir. Schaff ihn runter von mir!«
Julian schüttelt benommen den Kopf. »Das … das wollte ich nicht.«
»Um Gottes willen, Julian. Schaff ihn runter von mir! Wir müssen hier weg.«
Er zuckt zusammen, blinzelt und sieht mich an. Das Gewicht des Schmarotzers nimmt mir die Luft.
»Bitte, Julian.«
Schließlich rührt Julian sich. Er bückt sich, zieht die Leiche von mir weg und ich rapple mich auf. Mein Herz rast und meine Haut juckt überall; ich verspüre den verzweifelten Drang, zu baden, all diesen Tod von mir abzuwaschen. Die beiden toten Schmarotzer liegen so nah beieinander, dass sie sich fast berühren. Ein schmetterlingsförmiges Muster aus Blut besprenkelt den Boden zwischen ihnen. Mir ist übel.
»Das wollte ich nicht, Lena. Ich … ich habe nur gesehen, wie er auf dich loswollte, und da habe ich ein Messer gepackt und dann …« Julian schüttelt den Kopf. »Es war ein Unfall.«
»Julian.« Ich lege ihm die Hände auf die Schultern. »Hör zu. Du hast mir das Leben gerettet.«
Er schließt einen Moment die Augen, dann öffnet er sie wieder.
»Du hast mir das Leben gerettet«, wiederhole ich. »Danke.«
Er sieht so aus, als wollte er etwas sagen. Stattdessen nickt er und setzt den Rucksack auf. Impulsiv strecke ich den Arm aus und nehme seine Hand. Er entwindet sich meinem Griff nicht und ich bin froh darüber. Ich brauche ihn, um mich festzuhalten. Ich brauche ihn, um mich aufrecht zu halten.
»Zeit zu gehen«, sage ich und gemeinsam stolpern wir aus dem Raum und endlich in die kühle Feuchtigkeit der alten Tunnel, in das Echo, die Schatten und die Dunkelheit.
damals
A
uf dem Weg zum zweiten Lager fällt die Temperatur stark ab. Selbst wenn ich im Zelt schlafe, ist mir eiskalt. Wir müssen reihum draußen schlafen, und dann wache ich oft mit Eisstückchen im Haar auf. Sarah ist schweigsam und bleich.
Blue wird krank. Am ersten Tag unterwegs wacht sie auf und sagt, sie fühle sich schlapp. Sie hat Schwierigkeiten, mitzuhalten, und am Ende unseres Tagesmarsches schläft sie wie ein kleines Tier auf dem Boden zusammengerollt ein, noch bevor das Feuer brennt. Raven trägt sie in ihr Zelt. In dieser Nacht werde ich von einem gedämpften Schrei geweckt. Ich setze mich erschrocken auf. Der Nachthimmel ist klar, die Sterne glitzern hell. Es riecht nach Schnee.
Aus Ravens Zelt kann ich Geraschel und Jammern hören; geflüsterte Worte des Trosts. Blue träumt schlecht.
Am nächsten Morgen hat Blue Fieber, aber ihr bleibt keine Wahl: Sie muss trotzdem laufen. Schnee ist im Anzug und wir sind immer noch fast fünfzig Kilometer vom zweiten Lager entfernt und bis zum Winterstützpunkt ist es noch ewig weit.
Blue weint im Gehen und stolpert immer öfter. Wir tragen sie abwechselnd – Raven, Hunter, Lu, Grandpa und ich. Sie glüht. Ihre Arme um meinen Hals sind wie Kabel, die vor Hitze pulsieren.
Am nächsten Tag erreichen wir das zweite Lager: eine Stelle mit losem Schiefer unter einer alten, halb eingestürzten Ziegelmauer, die eine Art Bollwerk bildet und uns etwas Schutz gegen den Wind bietet. Wir machen uns daran, das Essen auszugraben, Fallen aufzustellen und die Gegend, die mal eine Stadt von gewisser Größe gewesen sein muss, nach Dosennahrung und nützlichen Vorräten abzusuchen. Wir werden hier zwei oder drei Tage bleiben, je nachdem, wie viel wir finden. Jenseits des Geheuls der Eulen und des Raschelns nächtlicher Tiere hören wir das entfernte Geräusch rumpelnder Lastwagen. Wir sind keine fünfzehn Kilometer von einem der
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