Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
Vom Netzwerk:
getrennt zu bleiben, Jungen und Mädchen. Dafür gab es eine Linie: Alles östlich des Wasserlaufs war unser Gebiet, alles westlich ihres.« Sie lacht leise. »Es kommt mir jetzt wie ein Traum vor. Aber damals erschien mir das wie die normalste Sache der Welt.«
    »Du hattest keinen Vergleich«, sage ich und Raven wirft mir einen kurzen Blick zu und nickt ruckartig.
    »Dann hat es eine Woche lang geregnet. Es wurde nicht weitergebaut und niemand wollte mit zur Baustelle. Mir machte der Regen nichts aus. Ich war nicht so gern zu Hause. Mein Vater war …« Sie stockt kurz und bricht ab. »Er war nicht ganz in Ordnung. Der Eingriff hatte bei ihm nicht richtig funktioniert. Es war zu einer temporären Störung der stimmungsregulierenden Gehirnlappen gekommen. So nannten sie es. Meistens war er normal, wie alle anderen. Aber von Zeit zu Zeit bekam er Wutanfälle …« Eine Weile starrt sie wortlos ins Feuer. »Meine Mutter half uns, die blauen Flecken abzudecken, Make-up aufzutragen und so. Wir durften es keinem erzählen. Niemand sollte erfahren, dass der Eingriff bei meinem Vater nicht richtig funktioniert hatte. Die Leute werden hysterisch; er hätte entlassen werden können. Meine Mutter sagte, das würde die Dinge nur verkomplizieren. Also verbargen wir es. Lange Ärmel im Sommer. Viele Krankheitstage. Viele Lügen – hingefallen, Kopf angeschlagen, an den Türrahmen gestoßen.«
    Ich habe mir Raven nie als kleines Mädchen vorgestellt. Aber ich kann das drahtige Mädchen mit demselben entschlossenen Mund sehen, das sich Abdeckcreme auf die blauen Flecken an Armen, Schultern und im Gesicht schmiert. »Es tut mir leid«, sage ich. Die Worte klingen unangebracht, lächerlich.
    Raven räuspert sich und strafft die Schultern. »Ist doch egal«, sagt sie schnell. Sie bricht einen langen dünnen Zweig in vier Teile und wirft sie eins nach dem anderen ins Feuer. Ich überlege, ob sie wohl das ursprüngliche Thema des Gesprächs – Blues Namen – vergessen hat, aber dann redet sie weiter.
    »Jene Woche – die Woche, in der es so viel regnete – war eine der schlechten Phasen meines Vaters. Also ging ich oft raus zur Baustelle. Eines Tages strich ich einfach um die Fundamente rum. Es waren hauptsächlich Schlackensteine und Baugruben; kaum eins der Gebäude war annähernd fertig. Und da sah ich diesen kleinen Karton. Einen Schuhkarton.« Sie saugt die Luft ein und spannt sich an.
    Der Rest der Geschichte strömt jetzt geradezu aus ihr heraus: »Irgendjemand musste ihn dort abgelegt haben, in einer Lücke im unteren Teil des Fundaments. Aber es hatte so stark geregnet, dass die Schachtel herausgeschwemmt worden war. Ich weiß nicht genau, warum ich beschloss hineinzusehen. Sie war schmutzig. Ich dachte, ich würde vielleicht ein Paar Schuhe finden oder Schmuck.«
    Ich weiß, wie die Geschichte weitergeht. Ich gehe neben Raven zu der schlammigen Schachtel hinüber; ich hebe den von der Feuchtigkeit verzogenen Deckel an. Das Entsetzen und der Abscheu ist auch Schlamm: Er steigt schwarz und erstickend in mir auf.
    Ravens Stimme senkt sich zu einem Flüstern. »Sie war in eine Decke gewickelt. Eine blaue Decke mit gelben Schäfchen darauf. Sie atmete nicht. Ich … ich dachte, sie sei tot. Sie war … sie war ganz blau. Ihre Haut, ihre Nägel, ihre Lippen, ihre Finger. Sie hatte so kleine Finger.«
    Der Schlamm ist jetzt in meiner Kehle. Ich kann nicht atmen.
    »Ich weiß nicht, warum ich versucht habe, sie wiederzubeleben. Wahrscheinlich war ich total durcheinander. Ich arbeitete während des Sommers als Rettungsschwimmerin, deshalb wusste ich, wie man jemanden reanimiert. Allerdings hatte ich es noch nie anwenden müssen. Und sie war so winzig – wahrscheinlich erst ein oder zwei Wochen alt. Aber es funktionierte. Ich werde nie vergessen, wie ich mich fühlte, als sie Atem holte und ihre Haut wieder eine normale Farbe annahm. Es war, als wäre die ganze Welt explodiert. Und all das, was ich vermisst hatte – all das Gefühl und die Farbe –, all das überkam mich mit ihrem ersten Atemzug. Ich nannte sie Blue, um mich immer an diesen Moment zu erinnern.«
    Unvermittelt hält Raven inne. Sie zieht Blues Schlafsack zurecht. Der Feuerschein glüht sanft rot und ich kann sehen, dass Blue blass ist. Sie hat Schweiß auf der Stirn und ihr Atem geht langsam und keuchend. Ich werde von einer blinden Wut ergriffen, ziellos und überwältigend.
    Ravens Geschichte ist noch nicht zu Ende. »Ich bin gar nicht wieder nach

Weitere Kostenlose Bücher