Pandemonium
Zeit, um das Wesentliche zu registrieren: ein Mann, mittelalt, ein Mädchen, blauschwarze Haare, größer als ich. Vielleicht ist es die Angst, aber ich bemerke außerdem die seltsamsten Einzelheiten: wie das linke Augenlid des Mannes herunterhängt, als zöge die Schwerkraft daran, und wie das Mädchen mit offenem Mund dasteht, so dass ich seine kirschrote Zunge sehen kann. Sie muss einen Lutscher oder ein Bonbon gelutscht haben; meine Gedanken huschen zu Grace.
Dann löst sich die Erstarrung im Raum, das Mädchen greift nach seiner Waffe und ich denke gar nichts mehr.
Ich stürze mich auf sie und schlage ihr die Waffe aus der Hand, bevor sie dazu kommt, sie auf mich zu richten. Julian ruft etwas. Ein Schuss fällt. Ich kann nicht sagen, wer geschossen hat. Das Mädchen schlägt nach mir, trifft mich mit der Faust am Kinn. Ich bin noch nie geschlagen worden und es ist eher der Schreck darüber als der Schmerz, der mich aus der Fassung bringt. In diesem Sekundenbruchteil gelingt es ihr, ein Messer zu ziehen, und das Nächste, was ich sehe, ist die Klinge, die auf mich zusaust. Ich ducke mich und ramme ihr die Schulter in den Magen.
Sie stöhnt auf, während wir beide zu Boden fallen und rückwärts in einen Karton mit alten Schuhen stolpern, der unter unserem Gewicht zusammenbricht. Wir kämpfen und ich kann ihre Haare, ihre Haut schmecken. Erst bin ich oben, dann wirft sie mich ab und dreht mich so heftig auf den Rücken, dass ich mit dem Kopf gegen den Betonboden knalle. Sie drückt ihre Knie fest in meine Rippen und umklammert mich so eisern, dass die ganze Luft aus meiner Lunge gepresst wird. Sie fingert nach einem weiteren Messer in ihrem Gürtel. Ich taste den Boden nach einer Waffe ab – irgendeiner Waffe –, aber das Mädchen ist zu schwer, hält mich zu fest, und meine Finger bekommen nichts zu fassen.
Julian und der Mann sind ineinander verkrallt und kämpfen stöhnend und mit gesenkten Köpfen. Sie schleudern herum und stoßen gegen ein niedriges Holzregal voller Töpfe und Pfannen. Es schwankt, hin und her, und kippt dann um: Die Töpfe verteilen sich überall, es entsteht ein Riesenlärm aus klapperndem und schepperndem Metall. Da wirft das Mädchen einen Blick über die Schulter und diese kleine Bewegung verschafft mir die Gelegenheit. Ich reiße die Faust hoch und treffe sie seitlich im Gesicht. Der Schlag hat bestimmt nicht sehr wehgetan, schleudert sie aber zur Seite und schon rolle ich mich auf sie und entreiße ihr das Messer. Mein Hass und meine Angst durchströmen mich mit Kraft, Energie und Hitze, und ohne nachzudenken, hebe ich die Klinge und ramme sie ihr mit voller Wucht in die Brust. Sie schreit auf, zuckt einmal und rührt sich dann nicht mehr. Mein Verstand ist eine Endlosschleife, wiederholt die immer gleichen Worte: Deine-Schuld-deine-Schuld-deine-Schuld . Von irgendwoher ertönt ein abgehacktes Schluchzen und es dauert eine ganze Weile, bis mir klar wird, dass ich diejenige bin, die weint.
Dann wird alles schwarz – und einen Sekundenbruchteil nach der Dunkelheit kommt der Schmerz –, als der andere Schmarotzer mich seitlich mit einem Knüppel am Kopf trifft. Ein donnerndes Knacken erklingt. Ich stürze und dann sehe ich nur noch verschwommene, unzusammenhängende Bilder: Julian, der bäuchlings neben dem umgekippten Regal liegt; eine alte Standuhr in der Ecke, die ich vorher gar nicht bemerkt hatte; Risse im Betonboden, die sich wie ein Spinnennetz ausdehnen, um mich zu umschließen. Dann nichts. Schnitt: Ich liege auf dem Rücken, die Decke dreht sich über mir. Ich sterbe. Komischerweise muss ich an Julian denken. Er hat sich verdammt gut geschlagen.
Der Mann ist über mir und bläst mir seinen heißen Atem ins Gesicht. Aus seinem Mund riecht es nach Verwesung. Er hat einen langen, unregelmäßigen Schnitt unter dem Auge – gut gemacht, Julian – und daraus tropft Blut auf mein Gesicht. Ich spüre die scharfe Klinge eines Messers unter meinem Kinn und rege mich nicht.
Er starrt mich so hasserfüllt an, dass ich plötzlich ganz ruhig bin. Ich werde sterben. Er wird mich umbringen. Die Gewissheit entspannt mich. Ich sinke in weißen Schnee. Ich schließe die Augen und versuche mir Alex so vorzustellen, wie ich immer von ihm geträumt habe, wie er am Ende eines Tunnels steht. Ich warte darauf, dass er auftaucht, die Hände nach mir ausstreckt.
Ich verliere kurz das Bewusstsein. Ich schwebe über der Erde. Dann liege ich wieder auf dem Boden. In meiner Kehle habe ich
Weitere Kostenlose Bücher