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Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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Highways entfernt, die die Städte miteinander verbinden.
    Es ist seltsam, wie nah wir den genehmigten Ortschaften sind, offiziellen Städten voller Lebensmittel, Kleidung, Medikamente; genauso gut könnten wir in einem anderen Universum leben. Die Welt ist zweigeteilt, ordentlich in zwei Hälften gefaltet wie die steil geneigten Wände eines Zelts: Die Geheilten und die Invaliden leben auf unterschiedlichen Seiten, in verschiedenen Dimensionen.
    Blues Albträume werden schlimmer. Sie schreit durchdringend, dann wieder plappert sie Unsinn, eine Sprache aus Gestammel und Traumwörtern. Als es Zeit wird, zum dritten Lager aufzubrechen – Wolken sind aufgezogen, fest mit dem Himmel verwoben, und das Licht ist trüb, dunkelgrau und kündigt endgültig den baldigen Schnee an –, reagiert sie kaum noch. Raven trägt sie an jenem Tag. Sie lässt sich von niemandem helfen, obwohl sie selbst auch schwach ist und oft zurückbleibt.
    Wir gehen schweigend. Die Angst lastet schwer auf uns; sie umgibt uns von allen Seiten und es fühlt sich an, als gingen wir bereits durch Schnee, weil wir alle wissen, dass Blue sterben wird. Raven weiß es auch. Sie muss es wissen.
    Am Abend entfacht Raven das Lagerfeuer und bettet Blue daneben. Obwohl ihre Haut glüht, zittert Blue so heftig, dass ihr die Zähne klappern. Wir Übrigen bewegen uns so leise wie möglich; wir sind Schatten im Rauch des Feuers. Ich schlafe draußen neben Raven ein, die wach bleibt, um das Feuer zu schüren und darauf zu achten, dass Blue es warm hat.
    Mitten in der Nacht wache ich auf, weil jemand leise weint. Raven beugt sich über Blue. Mein Magen zieht sich zusammen; ich habe Raven noch nie weinen sehen. Ich wage nicht zu sprechen, zu atmen, mich zu bewegen. Sie muss annehmen, dass alle anderen schlafen. Sonst würde sie sich nie gestatten zu weinen.
    Aber ich kann auch nicht ruhig bleiben. Ich raschele laut mit meinem Schlafsack und umgehend verstummt das Weinen. Ich setze mich auf.
    »Ist sie …?«, flüstere ich. Ich kann das letzte Wort nicht aussprechen. Tot .
    Raven schüttelt den Kopf. »Sie atmet sehr schwer.«
    »Aber wenigstens atmet sie«, sage ich. Ein langes Schweigen erstreckt sich zwischen uns. Ich will das hier unbedingt in Ordnung bringen. Irgendwie weiß ich, dass wir, sollten wir Blue verlieren, auch ein Stück von Raven verlieren werden. Und wir brauchen Raven, vor allem jetzt, wo Tack weg ist. »Sie wird wieder gesund«, sage ich, um sie zu trösten. »Ich bin sicher, dass es ihr bald wieder gut geht.«
    Raven dreht sich zu mir um. Ihre Augen reflektieren den Feuerschein und glühen wie die eines Tieres. »Nein«, sagt sie einfach. »Nein, wird es nicht.«
    Ihre Stimme ist so voller Gewissheit, dass ich ihr nicht widersprechen kann. Einen Augenblick bleibt Raven stumm. Dann sagt sie: »Weißt du, warum ich sie Blue genannt habe?«
    Die Frage überrascht mich. »Ich dachte, wegen ihrer Augen.«
    Raven dreht sich zurück zum Feuer und schlingt die Arme um die Knie. »Ich lebte in Yarmouth in der Nähe des Grenzzauns. In einer armen Gegend. Niemand sonst wollte so nah an der Wildnis wohnen. Angeblich brachte das Unglück.«
    Ein Schauer durchzuckt mich und ich bin plötzlich hellwach. Raven hat noch nie von ihrer Zeit vor der Wildnis gesprochen. Sie hat immer wiederholt, dass es so etwas nicht gibt. Kein Vorher.
    »Ich war eigentlich wie alle anderen. Akzeptierte einfach, was man mir sagte, und dachte nicht viel darüber nach. Nur die Geheilten kommen in den Himmel. Die Patrouillen dienen meinem eigenen Schutz. Die Ungeheilten sind schmutzig, Tiere. Die Krankheit lässt dich von innen verrotten. Stabilität ist Göttlichkeit und Glück.« Sie zuckt mit den Schultern, als wollte sie die Erinnerung an die, die sie mal war, abschütteln. »Allerdings war ich nicht glücklich. Ich verstand nicht, warum. Ich verstand nicht, warum ich mich nicht so fühlte wie alle anderen.«
    Ich muss an Hana denken, die sich mal mit weit ausgebreiteten Armen in ihrem Zimmer im Kreis gedreht und gesagt hat: Du glaubst also, das hier ist es? Mehr gibt es nicht?
    »Im Sommer, als ich vierzehn wurde, wurde am Zaun neu gebaut. Die Häuser waren für die ärmsten Familien in Yarmouth vorgesehen: die, die keine guten Paare abgaben, oder Familien, die als Abtrünnige galten oder über die es zumindest entsprechende Gerüchte gab – du weißt ja, wie das läuft. Tagsüber spielte ich an der Baustelle. Ein paar von uns taten das. Natürlich mussten wir darauf achten,

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