Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
Vom Netzwerk:
ich nichts Vernünftiges gegessen und die Stelle an meinem Hals, wo der Schmarotzer mich mit seinem Messer verletzt hat, pocht schmerzhaft. Julian muss immer öfter die Hand ausstrecken, um mich zu stützen. Schließlich lässt er eine Hand auf meinem Rücken liegen und lotst mich vorwärts. Ich bin dankbar für die Berührung. Sie macht die Qual des Marsches und des Schweigens und des angestrengten Lauschens auf Schmarotzer erträglicher.
    Wir gehen stundenlang, ohne anzuhalten. Schließlich wird die Dunkelheit milchig. Dann sehe ich ein wenig Licht, ein langer Silberstrahl, der von oben her in den Tunnel dringt. In die Decke sind fünf Gitter eingelassen. Zum ersten Mal seit Tagen sehe ich den Himmel: einen zerstückelten Nachthimmel mit Wolken und Sternen. Mir entfährt ein Schrei. Das ist das Schönste, was ich je gesehen habe.
    »Die Gitter«, sage ich. »Können wir …?«
    Julian geht an mir vorbei und schließlich wagen wir es, die Taschenlampe anzuknipsen. Er richtet den Strahl nach oben und schüttelt dann den Kopf.
    »Fest von außen verriegelt«, sagt er. Er reckt sich auf die Zehenspitzen und drückt leicht dagegen. »Keine Chance, sie zu bewegen.«
    Enttäuschung brennt in meiner Kehle. Wir sind der Freiheit so nah. Ich kann sie riechen – Wind und Weite und noch etwas. Regen. Es muss kürzlich geregnet haben. Der Geruch treibt mir die Tränen in die Augen. Wir stehen auf einem erhöhten Bahnsteig. Die Schienen unter uns sind von Wasser und einer Schicht Blätter bedeckt. Links von uns ist eine halb ausgehobene Nische, die mit Holzkisten vollgestellt ist; an der Wand hängt ein erstaunlich gut erhaltenes Schild. VORSICHT, steht darauf. BAUSTELLE. NUR MIT HELM BETRETEN.
    Ich kann mich nicht mehr aufrecht halten. Ich löse mich aus Julians Griff und falle auf die Knie.
    »Hey.« Er kniet sich neben mich. »Alles in Ordnung?«
    »Müde«, keuche ich. Ich rolle mich auf dem Boden zusammen und lege den Kopf auf den Arm. Ich kann kaum noch die Augen offen halten. Die Sterne über mir verschwimmen zu einem einzigen Lichtpunkt und brechen dann wieder auseinander.
    »Schlaf ein bisschen«, sagt Julian. Er nimmt meinen Rucksack ab und setzt sich neben mich.
    »Und was, wenn die Schmarotzer kommen?«, frage ich.
    »Ich bleibe wach«, entgegnet Julian. »Ich lausche auf sie.« Kurz darauf legt er sich auf den Rücken. Ein Luftzug weht durch die Gitter herein und ich zittere.
    »Ist dir kalt?«, fragt Julian.
    »Ein bisschen.« Ich bringe die Worte kaum heraus. Meine Kehle ist ebenfalls erstarrt.
    Eine Pause entsteht. Dann dreht sich Julian auf die Seite und schlingt den Arm um mich, wobei er vorrutscht, bis unsere Körper sich aneinanderschmiegen und ich von seinem eingefasst werde. Sein Herz schlägt an meinem Rücken – ein eigenartiger, stockender Rhythmus.
    »Hast du keine Angst vor der Deliria?«, frage ich ihn.
    »Doch«, antwortet er kurz angebunden. »Aber mir ist auch kalt.«
    Nach einer Weile geht sein Herzschlag regelmäßiger und meiner verlangsamt sich ebenfalls. Die Kälte in mir verschwindet nach und nach.
    »Lena?«, flüstert Julian. Ich habe die Augen geschlossen. Der Mond steht jetzt direkt über uns, ein hoher, heller Strahl.
    »Ja?«
    Ich spüre, wie Julians Herzschlag sich wieder beschleunigt. »Soll ich dir erzählen, wie mein Bruder gestorben ist?«
    »Okay«, sage ich, obwohl mir etwas im Tonfall seiner Stimme Angst macht.
    »Mein Bruder und mein Vater haben sich nie besonders gut verstanden«, sagt Julian. »Mein Bruder war stur. Eigensinnig. Launisch. Alle sagten, das würde sich legen, sobald er geheilt wäre.« Julian hält kurz inne. »Aber je älter er wurde, desto schlimmer wurde es. Meine Eltern überlegten, seinen Eingriff vorzuziehen. Es machte keinen guten Eindruck, weißt du, wegen der VDFA und allem. Er war wild und hörte nicht auf meinen Vater und ich bin mir nicht mal sicher, ob er überhaupt an das Heilmittel glaubte. Er war sechs Jahre älter als ich. Ich hatte … ich hatte Angst um ihn. Weißt du, was ich meine?«
    Mir fehlen die Worte, deshalb nicke ich nur. Erinnerungen stürmen auf mich ein, steigen von den dunklen Orten auf, wo ich sie eingemauert habe: die ständig schwelende Sorge, die ich als Kind hatte, wenn ich sah, wie meine Mutter lachte, tanzte, zu seltsamer Musik sang, die aus unseren Lautsprechern tönte, eine mit Furcht durchsetzte Freude; Angst um Hana; Angst um Alex; Angst um uns alle.
    »Vor sieben Jahren gab es schon mal eine große Kundgebung in

Weitere Kostenlose Bücher