Pandemonium
New York. Damals wurde die VDFA zu einer landesweiten Organisation. Es war meine erste Kundgebung. Ich war elf Jahre alt. Mein Bruder sagte ab. Ich weiß nicht mehr, mit welcher Begründung.«
Julian verändert seine Haltung. Einen Moment spannt sich sein Arm um mich herum an, eine unbewusste Umklammerung; dann entspannt er sich wieder. Irgendwie weiß ich, dass er diese Geschichte noch niemandem erzählt hat.
»Es war eine Katastrophe. Mitten während der Kundgebung stürmten Demonstranten das Rathaus – dort fand sie statt –, die Hälfte von ihnen maskiert. Die Polizei schritt ein und plötzlich gab es eine Schlägerei. Ich versteckte mich hinter dem Rednerpult wie ein kleines Kind. Hinterher schämte ich mich so.
Einer der Demonstranten kam sehr nah an die Bühne, an meinen Vater heran. Er schrie irgendetwas – ich konnte nicht hören, was. Es war laut und er trug eine Skimaske. Der Wachmann brachte ihn mit einem Schlagstock zu Fall. Eigenartigerweise erinnere ich mich, dass ich das sehr wohl gehört habe; das Knacken, mit dem das Holz sein Knie traf, der Knall, als er zusammenbrach. Da muss mein Vater es gesehen haben, das große halbmondförmige Muttermal auf seinem linken Handrücken. Das Muttermal meines Bruders. Er sprang von der Bühne ins Publikum, zog die Maske ab und … er war es. Da lag mein Bruder mit höllischen Schmerzen und zerschmettertem Knie. Aber ich werde nie den Blick vergessen, mit dem er meinen Vater ansah. Ganz ruhig und ergeben, als … als wüsste er, was passieren würde.
Wir kamen schließlich da raus – wurden von der Polizei bis nach Hause eskortiert. Mein Bruder lag stöhnend hinten im Wagen. Ich wollte ihn fragen, ob alles in Ordnung sei, aber ich wusste, mein Vater würde mich umbringen. Er fuhr den ganzen Weg wortlos nach Hause, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. Ich weiß nicht, was in meiner Mutter vorging. Aber ich denke, sie machte sich zumindest Sorgen. Im Buch Psst heißt es, dass die Verpflichtung unseren Kindern gegenüber heilig ist, nicht wahr? ›Und die gute Mutter wird ihre Pflichten erst im Himmel abgeben …‹«, zitiert Julian leise. »Sie wollte ihn zum Arzt bringen, aber mein Vater ließ das nicht zu. Das Knie meines Bruders sah schlimm aus – es war grotesk angeschwollen. Er schwitzte wie verrückt, vor lauter Schmerz. Ich wollte helfen. Ich wollte …« Ein Zittern durchläuft Julians Körper. »Als wir nach Hause kamen, sperrte mein Vater meinen Bruder in den Keller. Er sollte dort einen Tag lang im Dunkeln sitzen, damit er seine Lektion lernte.«
Ich stelle mir Thomas Fineman vor: die sorgfältig gebügelte Kleidung und seine goldenen Manschettenknöpfe, die ihm offenbar eine solche Befriedigung verschaffen; die glänzende Uhr und das ordentlich frisierte Haar. Rein, sauber, makellos – wie ein Mann, der immer gut schläft. Ich hasse dich , denke ich an Julians Stelle. Julian hat diese Worte nie kennengelernt und die Erleichterung gespürt, die sie einem verschaffen können.
»Wir hörten meinen Bruder durch die Tür hindurch weinen. Wir hörten ihn vom Esszimmer aus, wo wir zu Abend aßen. Mein Vater zwang uns zusammen am Tisch zu sitzen, als wäre alles wie immer. Das werde ich ihm nie verzeihen.« Den letzten Teil flüstert er. Ich taste nach seiner Hand, verschränke meine Finger mit seinen und drücke sie. Er drückt kurz zurück.
Eine Weile lang liegen wir schweigend da. Dann ist von oben ein leises Rauschen zu hören, kurz darauf wird es zu Tausenden Regentropfen, die auf die Straße prasseln. Wasser plätschert durch die Gitter und prallt mit einem Klingeln von den alten Metallschienen ab.
»Und dann hörte das Weinen auf«, sagt Julian einfach und ich muss an jenen Tag in der Wildnis denken, als Raven und ich abwechselnd Blues Stirn kühlten, während die Sonne über den Bäumen aufstieg, lange nachdem wir gespürt hatten, wie Blue unter unseren Händen kalt geworden war.
Julian räuspert sich. »Sie haben später gesagt, es war ein ungewöhnlicher Unfall; ein Blutgerinnsel aus der Verletzung sei ins Gehirn gewandert. Passiert mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million. Mein Vater hätte das nicht wissen können. Aber trotzdem, ich …«
Er bricht ab. »Danach war ich immer ganz vorsichtig, weißt du. Ich habe alles richtig gemacht. Ich war der perfekte Sohn, ein Musterschüler der VDFA. Sogar als ich erfuhr, dass ich bei dem Eingriff wahrscheinlich sterben würde. Es war mehr als Angst«, sagt Julian
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