Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
Vom Netzwerk:
und die Worte strömen plötzlich aus ihm hervor. »Ich dachte, wenn ich die Regeln befolgte, würde alles in Ordnung kommen. Darum geht es doch bei dem Heilmittel, oder? Es geht gar nicht nur um die Deliria. Es geht um Ordnung. Einen Weg für alle. Du musst ihm einfach folgen und alles wird gut. Deshalb gibt es die VDFA. Daran habe ich geglaubt … daran musste ich glauben. Denn sonst herrscht nur … Chaos.«
    »Vermisst du ihn?«, frage ich.
    Julian antwortet nicht gleich und ich weiß irgendwie, dass ihn das noch nie jemand gefragt hat. »Ich glaube schon«, sagt er schließlich leise. »Zumindest habe ich ihn lange vermisst. Meine Mutter … meine Mutter hat mir gesagt, nach dem Eingriff wäre es nicht mehr so schlimm. Ich würde nicht mehr auf diese Weise an ihn denken, hat sie gesagt.«
    »Das ist sogar noch schlimmer«, entgegne ich leise. »Dann sind sie wirklich weg.«
    Ich zähle drei lange Sekunden Schweigen und in jeder davon schlägt Julians Herz gegen meinen Rücken. Mir ist nicht mehr kalt. Wenn überhaupt, ist mir zu warm. Unsere Körper sind sich so nah – Haut an Haut, verschränkte Finger. Sein Atem in meinem Nacken.
    »Jetzt weiß ich nicht mehr, was los ist«, flüstert Julian. »Ich verstehe gar nichts mehr. Ich weiß nicht, was als Nächstes passieren wird.«
    »Das musst du auch nicht wissen«, sage ich, und es stimmt: Die Tunnel mögen lang sein und gewunden und dunkel; aber man muss einfach hindurchgehen.
    Weiteres Schweigen. Schließlich sagt Julian: »Ich habe Angst.«
    Er flüstert es kaum; aber ich kann spüren, wie sich seine Lippen an meinem Nacken bewegen, als würden die Worte dort buchstabiert.
    »Ich weiß«, sage ich. »Ich auch.«
    Ich kann nicht länger wach bleiben. Ich werde durch Zeit und Erinnerung hin und her getragen, zwischen diesem Regen und früherem Regen hin und her, als würde ich eine Wendeltreppe auf und ab laufen. Julian hat seinen Arm um mich gelegt, dann Alex; dann hält Raven meinen Kopf in ihrem Schoß und dann singt mir meine Mutter etwas vor.
    »Mit dir habe ich weniger Angst«, sagt Julian. Oder vielleicht ist es Alex, der spricht, oder vielleicht habe ich die Worte auch nur geträumt. Ich öffne den Mund, um zu antworten, stelle jedoch fest, dass ich nicht sprechen kann. Ich trinke Wasser und dann schwebe ich und dann ist da nichts weiter als Schlaf, flüssig und tief.

damals
    W
ir beerdigen Blue am Fluss. Es dauert Stunden, bis wir den gefrorenen Boden aufgehackt und ein Loch zu Stande gebracht haben, das groß genug für Blue ist. Wir ziehen ihr die Jacke aus, bevor wir sie beerdigen. Wir können es uns nicht leisten, darauf zu verzichten. Sie fühlt sich so leicht an, als wir sie hinabsenken, genau wie ein kleines Vögelchen, zerbrechlich und mit hohlen Knochen.
    Im letzten Moment, als wir sie gerade mit Erde bedecken wollen, schiebt sich Raven nach vorn, plötzlich hysterisch. »Sie friert doch«, sagt sie. »So wird sie erfrieren.« Niemand will sie aufhalten. Sie zieht sich den Pullover aus, rutscht in das behelfsmäßige Grab, nimmt Blue in die Arme und wickelt sie hinein. Sie weint. Die meisten von uns wenden sich verlegen ab. Nur Lu tritt vor.
    »Blue wird es gut haben, Raven«, sagt sie sanft. »Der Schnee wird sie warm halten.«
    Raven blickt auf, mit verstörtem Blick und tränenüberströmt. Sie mustert unsere Gesichter, als müsste sie angestrengt nachdenken, wer wir sind. Dann springt sie plötzlich auf und klettert aus dem Grab hinaus.
    Bram tritt vor und beginnt wieder Erde über Blues Leichnam zu schaufeln, aber Raven hält ihn zurück.
    »Lass«, sagt Raven. Ihre Stimme ist laut und unnatürlich hoch. »Lu hat Recht. Es wird jeden Moment anfangen zu schneien.«
    Der Schneefall setzt ein, als wir das Lager abbrechen. Den ganzen Tag über schneit es weiter, während wir in einer langen, unregelmäßigen Reihe schweigend durch den Wald gehen. Die Kälte schmerzt, quält mich in der Brust, beißt in meine Finger und Zehen. Der Schnee fällt mittlerweile als Eisregen und brennt wie heiße Asche. Aber ich stelle mir vor, dass er auf Blue sanfter fällt, sie wie eine Decke einhüllt und sie schützt bis zum Frühling.

jetzt
    A
m Morgen regnet es noch immer.
    Ich setze mich langsam auf. Ich habe schreckliche Kopfschmerzen und mir ist schwindelig. Julian liegt nicht mehr neben mir. Der Regen strömt durch die Gitter – lange, gewundene, graue Bänder, und darunter steht Julian.
    Er hat mir den Rücken zugekehrt und sich bis auf seine

Weitere Kostenlose Bücher