Pandemonium
jetzt ist mir gar nicht aufgefallen, wie wund ich überall bin. Alles tut mir weh. Meine Beine und Arme sind von dunklen Blutergüssen überzogen.
Inzwischen bin ich so sauber, wie es eben geht, aber ich möchte nicht aus dem Wasserstrahl treten, obwohl mich die Kälte schaudern lässt. Sie ist angenehm erfrischend.
Schließlich wate ich zurück zum Bahnsteig. Ich brauche zwei Versuche, um mich hinaufzuziehen, so schwach bin ich. Ich wickele mein langes Haar um eine Hand und wringe es aus, und selbst das macht mich froh; die Normalität dieser Handlung, so gewohnt und vertraut.
Ich ziehe die Jeans an, die ich mitgenommen habe, und kremple sie an der Taille einmal um, damit sie nicht rutscht.
Dann: Schritte hinter mir. Ich fahre herum und bedecke mit den Armen meine Brüste.
Julian tritt aus den Schatten.
Einen Arm weiterhin vor der Brust, greife ich nach meinem T-Shirt.
»Warte«, ruft er und etwas an seinem Tonfall – befehlend und drängend zugleich – lässt mich innehalten. »Warte«, wiederholt er sanfter.
Wir sind mehr als fünf Meter voneinander entfernt, aber die Art, wie er mich ansieht, gibt mir das Gefühl, wir stünden direkt voreinander. Ich kann seinen Blick auf meiner Haut wie eine kribbelnde Berührung spüren. Ich sollte schnell mein T-Shirt anziehen, aber ich kann mich nicht rühren. Ich kann kaum atmen.
»Ich hab so was noch nie gesehen«, sagt Julian einfach und kommt noch einen Schritt auf mich zu. Das Licht auf seinem Gesicht verändert sich und in seinen Augen liegt eine Sanftheit, die die glühende Hitze in meinem Körper zu Wärme mindert, zu einem gleichmäßigen, wunderbaren Gefühl. Gleichzeitig meldet sich eine leise Stimme in meinem Hinterkopf zu Wort: Gefahr, Gefahr, Gefahr. Und ein entferntes Echo: Alex, Alex, Alex.
So hat Alex mich angesehen.
»Deine Taille ist so schmal.« Das ist alles, was Julian sagt – so leise, dass ich ihn kaum hören kann.
Ich zwinge mich, mich von ihm abzuwenden. Meine Hände zittern, als ich mir den Sport-BH und dann das T-Shirt über den Kopf ziehe. Als ich mich wieder zu ihm umdrehe, habe ich aus irgendeinem Grund Angst vor ihm. Er ist noch näher gekommen. Er riecht nach Regen.
Er hat mich oben ohne gesehen, entblößt.
Er hat mich angesehen, als wäre ich schön.
»Geht’s dir besser?«, fragt er.
»Ja«, erwidere ich und senke den Blick. Ich betaste vorsichtig den Schnitt an meinem Hals. Er ist ungefähr anderthalb Zentimeter lang.
»Lass mal sehen.« Julian streckt die Hand aus, dann zögert er, die Finger wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Ich sehe zu ihm auf. Er scheint mich um Erlaubnis zu fragen. Ich nicke und er schiebt die Hand vorsichtig unter mein Kinn und hebt es an, so dass er meinen Hals sehen kann. »Wir sollten ihn verbinden.«
Wir. Wir stehen jetzt auf derselben Seite. Er sagt nichts weiter zu der Tatsache, dass ich ihn angelogen habe, und zu der Tatsache, dass ich ungeheilt bin. Ich frage mich, wie lange das anhalten wird.
Julian geht zum Rucksack hinüber. Er kramt nach den Erste-Hilfe-Utensilien und kommt mit einer Mullbinde, einer Flasche Peroxid, einer antibakteriellen Salbe und mehreren Wattebäuschen zurück.
»Ich kann das machen«, sage ich, aber Julian schüttelt den Kopf.
»Lass mich mal«, entgegnet er. Zuerst tränkt er die Wattebäusche mit Peroxid und tupft den Schnitt vorsichtig ab. Es brennt und ich zucke zurück und schreie auf. Er hebt die Augenbrauen. »Komm schon«, sagt er und verzieht den Mund zu einem Lächeln. »So doll tut es auch nicht weh.«
»Tut es wohl«, beharre ich.
»Gestern bist du gegen zwei gemeingefährliche Irre angetreten und jetzt jammerst du, wenn es ein bisschen brennt?«
»Das ist was anderes«, sage ich und funkele ihn an. Mir ist klar, dass er sich über mich lustig macht, und das gefällt mir nicht. »Da ging es ums Überleben.«
Julian hebt die Augenbrauen, sagt aber nichts. Er tupft den Schnitt noch einmal mit dem Wattebausch ab und diesmal beiße ich die Zähne zusammen. Dann drückt er einen schmalen Streifen Salbe auf die Binde und wickelt sie vorsichtig um meinen Hals. Ich denke wieder daran, wie Alex mich während der Razzia verarztet hat. Wie wir uns in dem winzigen Werkzeugschuppen versteckten, nachdem ein Hund mich heftig ins Bein gebissen hatte. Als Julians Hände über meine Haut streichen, bin ich plötzlich atemlos.
Ich frage mich, ob sich Leute immer auf diese Weise näherkommen – indem sie gegenseitig ihre Wunden
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