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Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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versorgen.
    »So. So gut wie neu.« Seine Augen haben das Grau des Himmels oberhalb der Gitter angenommen. »Kannst du weitergehen?«
    Ich nicke, obwohl ich mich immer noch schwach fühle und mir schwindelig ist.
    Julian streckt den Arm aus und drückt meine Schulter. Ich frage mich, was er denkt, wenn er mich berührt, ob er auch den elektrischen Impuls fühlt, der meinen Körper durchläuft. Er ist nicht daran gewöhnt, Kontakt zu Mädchen zu haben, aber das scheint ihm nichts auszumachen. Er hat eine Grenze überschritten. Ich frage mich, was er tun wird, wenn wir endlich hier rauskommen. Er wird zweifellos in sein altes Leben zurückkehren – zu seinem Vater, zur VDFA.
    Vielleicht wird er mich verhaften lassen.
    Ich spüre eine Welle aus Übelkeit und schließe die Augen, schwanke leicht.
    »Bist du sicher, dass du weitergehen kannst?«
    Julians Stimme ist so sanft, dass meine Brust in tausend flatternde Teilchen zerbricht. Das war nicht Teil des Plans. Das sollte nicht passieren.
    Ich muss daran denken, was ich gestern Abend zu ihm gesagt habe: Das musst du nicht wissen. Die harte, unerträgliche, schöne Wahrheit.
    »Julian.« Ich öffne die Augen, wünschte, meine Stimme klänge weniger zittrig. »Wir sind nicht gleich. Wir stehen auf unterschiedlichen Seiten. Das weißt du, oder?«
    Sein Blick wird etwas härter, intensiver, seine Augen erscheinen mir nun leuchtend blau. Aber als er spricht, ist seine Stimme immer noch sanft und leise. »Ich weiß nicht mehr, auf welcher Seite ich stehe«, sagt er.
    Er tritt einen weiteren Schritt auf mich zu.
    »Julian …« Ich bekomme kaum seinen Namen heraus.
    Da höre ich es: einen gedämpften Ruf aus einem der Tunnel, das Geräusch trommelnder Schritte. Julian erstarrt und wir wissen es beide:
    Die Schmarotzer sind da.
    Entsetzen. Die Stimmen dringen aus dem Tunnel, durch den wir letzte Nacht gekommen sind. Julian hebt den Rucksack auf und ich streife schnell die Sneakers über, ohne mich mit den Socken abzugeben. Ich schnappe mir das Messer vom Boden; Julian greift nach meiner anderen Hand und zieht mich vorwärts, an den Holzkisten vorbei und ans andere Ende des Bahnsteigs. Nur fünfzehn Meter von den Gittern entfernt kann man fast nichts mehr sehen. Wir werden von Dunst und Dunkelheit verschluckt. Es fühlt sich an, wie einen Krater zu betreten, und ich versuche die Angst zu unterdrücken. Ich weiß, ich sollte dankbar sein für die Dunkelheit, die uns verbirgt, aber ich muss immer daran denken, worauf wir dort treffen könnten: geräuschlose Schatten; Leichen, die an Rohren baumeln.
    Wir betreten einen Tunnel, der so niedrig ist, dass Julian und ich uns bücken müssen. Nach drei Metern kommen wir an eine schmale Leiter aus Metall, die in einen breiteren Tunnel hinunterführt, der mit alten Schienen versehen ist, aber glücklicherweise frei von fließendem Wasser. Alle paar Schritte bleibt Julian stehen und lauscht auf die Schmarotzer.
    Dann hören wir, schon viel näher, eine unverkennbare Stimme: »Hier lang.« Die beiden Worte rauben mir den Atem. Das ist der Albino. Ich verfluche mich in Gedanken, dass ich die Pistole in den Rucksack gesteckt habe. Wie blöd – jetzt, während Julian und ich durchs Dunkel weiterdrängen, gibt es keine Möglichkeit, sie rauszuholen. Ich umklammere das Messer, sein solider Holzgriff und sein Gewicht geben mir Kraft. Aber ich bin immer noch benommen und außerdem habe ich Hunger; in einem Kampf hätte ich keine guten Chancen. Ich spreche ein stilles Gebet, dass es uns gelingt, sie abzuhängen.
    »Hier runter!«
    Die Stimmen werden lauter, kommen näher. Wir hören Füße gegen die metallene Leiter stoßen, mein Blut rauscht vor Angst. Licht zuckt über die Wand, aufblitzende gelbe Tentakel. Sie haben natürlich Taschenlampen. Kein Wunder, dass sie so schnell näher kommen. Sie müssen sich keine Sorgen machen, gesehen oder gehört zu werden. Sie sind die Jäger.
    Und wir sind die Beute.
    Verstecken. Das ist unsere einzige Hoffnung. Wir müssen uns verstecken.
    Rechts von uns ist ein Torbogen – dahinter noch schwärzere Dunkelheit – und ich drücke Julians Hand, ziehe ihn zurück, führe ihn hindurch in einen weiteren Tunnel, der ungefähr dreißig Zentimeter niedriger ist als der, durch den wir gerade gegangen sind, und voller Pfützen aus abgestandenem, stinkendem Wasser. Wir tasten uns durch die Finsternis. Die Wände sind glatt – keine Nischen, keine aufgestapelten Kisten, nichts, das uns verbergen könnte – und

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