Pandemonium
übereinanderspringen, sich winden und krümmen, an meine Handgelenke stoßen und an meinen Knien knabbern. Zwei Schüsse fallen, hallen durch den Tunnel, jemand schreit vor Schmerz. Über mir sind Umrisse, Leute, die mit den Schmarotzern kämpfen; sie haben riesige Fackeln, die nach dreckigem Öl stinken, und sie fahren mit dem Feuer durch die Luft wie ein Bauer mit der Sense durch ein Weizenfeld. Verschiedene Standbilder werden kurz beleuchtet: Julian, der vornübergebeugt dasteht und eine Hand an die Tunnelwand gelegt hat; ein Mädchen, das zu den Schmarotzern gehört, ihr Gesicht ist verzerrt, sie schreit, ihre Haare brennen wie eine der Fackeln.
Dies ist eine neue Art Schrecken. Ich bin auf den Knien wie erstarrt, während die Ratten um mich herumrasen, quieken und ihre Körper gegen mich prallen, sie schlittern herum und peitschen meine Haut mit ihren Schwänzen. Mir ist übel.
Das ist ein Albtraum. Es muss einfach ein Albtraum sein.
Eine Ratte krabbelt auf meinen Schoß. Ich schreie und schleudere sie weg, Brechreiz steigt in mir auf. Sie trifft mit einem widerlichen Knall an der Wand auf; dann gesellt sie sich wieder zu dem Strom, läuft in ihm an mir vorbei. Ich ekele mich so, dass ich mich immer noch nicht rühren kann. Ein Wimmern dringt aus meiner Kehle. Vielleicht bin ich gestorben und in der Hölle – als Strafe für die Deliria und all die schrecklichen Dinge, die ich getan habe – und muss dort in Verkommenheit und Chaos leben, genau wie es Das Buch Psst den Ungehorsamen prophezeit.
»Steh auf.«
Ich hebe den Kopf. Über mir stehen zwei Monster mit Fackeln in der Hand. Sie sehen nur halb menschlich aus, wie Bestien aus dem Untergrund. Einer von ihnen ist übergroß, geradezu ein Riese. Eins seiner Augen ist milchig weiß, erblindet; das andere glänzt so dunkel wie das eines Tiers.
Die andere Gestalt ist bucklig, ihr Rücken so krumm wie ein gebogener Schiffsrumpf. Ich kann nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau ist. Lange, fettige Haare verbergen das Gesicht zum großen Teil. Sie – oder er – hat Julian die Hände mit einer Schnur auf dem Rücken zusammengebunden. Die Schmarotzer sind weg.
Ich stehe auf. Der Verband um meinen Hals hat sich gelöst und meine Haut fühlt sich nass und glitschig an.
»Los.« Der Rattenmann zeigt mit seiner Fackel in Richtung des Tunnels hinter mir. Er steht leicht vornübergebeugt und hält sich mit der freien Hand die rechte Seite. Ich muss an die Schüsse denken und daran, dass ich jemanden schreien gehört habe. Vielleicht war er es.
»Hör zu.« Meine Stimme zittert. Ich hebe beide Hände in einer friedlichen Geste. »Ich weiß nicht, wer ihr seid oder was ihr von uns wollt, aber wir versuchen nur, hier rauszukommen. Wir haben nicht viel, aber ihr könnt haben, was ihr wollt. Aber … aber bitte lasst uns gehen. Bitte, okay?« Meine Stimme bricht. »Bitte lasst uns gehen.«
»Los«, wiederholt der Rattenmann und gestikuliert diesmal mit der Fackel so nah vor meinem Gesicht herum, dass ich die Hitze der Flammen spüren kann.
Ich sehe Julian an. Er schüttelt kaum wahrnehmbar den Kopf. Der Ausdruck in seinen Augen ist eindeutig. Was können wir schon tun?
Ich drehe mich um und gehe los. Der Rattenmann mit seiner Fackel folgt mir und vor uns verschwinden Hunderte von Ratten in der Dunkelheit.
damals
N
iemand weiß, was uns beim dritten Lager erwartet oder ob es überhaupt ein drittes Lager gibt. Da Tack und Hunter nicht zu uns zurückgekommen sind, wissen wir nicht, ob sie Vorräte außerhalb von Hartford, Connecticut, vergraben konnten, ungefähr 300 Kilometer südlich von unserem Stützpunkt in Rochester entfernt, oder ob ihnen unterwegs etwas zugestoßen ist. Die Kälte krallt jetzt ihre Klauen in die Landschaft. Sie ist erbarmungslos und wird erst im Frühjahr nachlassen. Wir sind müde, hungrig und erschöpft. Noch nicht mal Raven kann den Anschein von Stärke aufrechterhalten. Sie geht langsam mit gesenktem Kopf, ohne zu sprechen.
Ich weiß nicht, was wir tun, wenn es beim dritten Lager keine Lebensmittel gibt. Ich weiß, dass Raven sich auch Sorgen macht, obwohl sie nicht darüber redet. Keiner von uns redet darüber. Wir gehen nur blindlings, hartnäckig immer weiter.
Aber die Angst ist da. Die Stimmung hellt sich auch nicht auf, als wir uns Hartford nähern – uns einen Weg zwischen den Ruinen alter Städte hindurch bahnen, zwischen den Hüllen ausgebombter Häuser wie vertrocknete Insektenpanzer. Es herrscht Nervosität:
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