Pandemonium
wie sie nach dem langen Messer an ihrem Gürtel tastet. Ihre Finger sind ungeschickt, steif vom Frost, und sie kriegt es nicht aus dem Beutel. Mir wird klar, dass ihr einziger Plan ist, sich so lange wie möglich zu wehren; wir werden hier draußen sterben und unser Blut wird im Schnee versickern.
Meine Kehle kratzt, schmerzt; kahle Äste peitschen mir ins Gesicht und treiben mir die Tränen in die Augen. Ein Schmarotzer ist mir jetzt ganz nah, so nah, dass ich sein heftiges Keuchen hören kann und seinen Schatten sehe, der parallel zu meinem rennt – links von uns erstrecken sich zwei Gestalten auf dem Schnee –, und in jenem Moment, kurz bevor er mich einholt, muss ich an Hana denken. Zwei Schatten auf den Straßen von Portland; die heiße, hoch stehende Sonne; Beine, die im Gleichklang laufen.
Dann ist kein Platz mehr zum Rennen.
»Vorwärts!«, schreit Raven und schubst Sarah in einen dunklen Raum, in eine der Höhlen in den Felsen. Sarah ist klein genug dafür. Hoffentlich schaffen es die Schmarotzer nicht bis zu ihr. Dann spüre ich eine Hand auf der Schulter, stürze auf die Knie. Ich drehe mich auf den Rücken, fünfzehn Zentimeter vor der Wand aus Fels.
Er steht über mir: ein Riese, ein grinsendes Monster. Er hebt die Axt und die Schneide glitzert in der Sonne. Ich bin zu verängstigt, um mich zu rühren, zu schreien, zu weinen.
Er spannt sich an, bereit zum Schlag.
Ich schließe die Augen.
Ein Schuss explodiert in der Stille, dann zwei weitere. Ich öffne die Augen und sehe, wie der Schmarotzer über mir zur Seite kippt wie eine Marionette, deren Fäden plötzlich abgeschnitten wurden. Seine Axt fällt mit der Schneide voraus in den Schnee. Die beiden anderen Schmarotzer sind ebenfalls gestürzt, von Kugeln durchschlagen. Ihr Blut breitet sich auf dem weißen Boden aus.
Dann sehe ich sie: Tack und Hunter kommen mit Gewehren in der Hand auf uns zugerannt, dünn, blass, ausgezehrt, aber sie leben.
jetzt
A
ls ich zu mir komme, liege ich auf einer schmuddeligen Decke auf dem Rücken. Julian kniet mit ungefesselten Händen neben mir.
»Wie fühlst du dich?«
Plötzlich fällt mir alles wieder ein – die Ratten, die Monster, die Frau mit dem halben Gesicht. Ich versuche mich aufzurichten. Kleine Feuerwerkskörper aus Schmerz explodieren in meinem Kopf.
»Langsam, langsam.« Julian schiebt den Arm unter meine Schultern und hilft mir in eine sitzende Position. »Du hast dir ganz schön den Kopf angehauen.«
»Was ist passiert?« Wir sitzen in einer Ecke, die von zerlegten Pappkartons teilweise abgeschirmt wird. Auf dem ganzen Bahnsteig sind geblümte Laken zwischen zerbrochenen Sperrholzleisten gespannt und bieten den Bewohnern ein gewisses Maß an Privatsphäre. Matratzen liegen in improvisierten Bettgestellen aus Karton. Aus ineinander verkeilten kaputten Stühlen und dreibeinigen Tischen sind Wände entstanden. Die Luft ist immer noch heiß und stinkt nach Asche und Öl. Der Qualm zieht eine Linie an der Decke, bevor er durch einen kleinen Abzug nach draußen gesaugt wird.
»Sie haben dich gewaschen«, sagt Julian leise und ungläubig. »Erst dachte ich, sie würden …« Er bricht ab und schüttelt den Kopf. »Aber dann kam eine Frau mit Verbandsmaterial und allem. Sie hat deinen Hals verbunden. Es hatte wieder angefangen zu bluten.«
Ich berühre meinen Hals: Er ist mit einer dicken Schicht Gaze bedeckt. Sie haben sich auch um Julian gekümmert; der Schnitt an seiner Lippe ist gesäubert worden und die Blutergüsse an seinen Augen sind weiter abgeschwollen.
»Wer sind diese Leute?«, frage ich. »Wo sind wir hier?«
Julian schüttelt erneut den Kopf. »Invaliden.« Als er sieht, wie ich zusammenzucke, fügt er hinzu: »Ich kenne kein anderes Wort für sie. Für euch.«
»Wir sind nicht alle gleich«, sage ich, während ich die gebeugten und verkrüppelten Gestalten beobachte, die sich jenseits des rauchenden Feuers bewegen. Irgendetwas wird gekocht, das riecht man. Ich will gar nicht daran denken, was sie hier unten so essen – was für Tiere sie fangen. Die Ratten fallen mir ein und mein Magen zieht sich zusammen. »Kapierst du das immer noch nicht? Wir sind unterschiedlich. Wir wollen unterschiedliche Dinge. Wir leben auf unterschiedliche Art. Genau darum geht es.«
Julian klappt den Mund auf, um zu antworten, aber in diesem Moment taucht die Monsterfrau auf, die, gegen die ich mich gewehrt habe. Sie schiebt die Kartonabgrenzung zur Seite und mir wird klar, dass die so
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