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Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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aufgestellt wurden, damit Julian und ich ein wenig für uns sein können.
    »Du bist wach«, sagt die Frau. Jetzt, wo ich nicht mehr so verängstigt bin, sehe ich, dass ihr mitnichten ein Teil des Gesichts fehlt, wie ich angenommen hatte; die rechte Seite ihres Gesichts ist einfach nur viel kleiner als die linke, eingefallen, als bestünde ihr Gesicht aus zwei verschiedenen Masken, die ungeschickt zusammengesetzt sind. Geburtsfehler, denke ich, obwohl ich in meinem ganzen Leben nur ein paar Bilder von Leuten mit Behinderung gesehen habe, alle in Schulbüchern. In der Schule haben wir immer gelernt, dass Kinder von Ungeheilten so enden würden, auf irgendeine Art verkrüppelt und gestört. Die Priester haben uns gesagt, das sei die Deliria, die sich in ihren Körpern manifestiere.
    Die Kinder der Gesunden und Unversehrten sind gesund und unversehrt; die Kinder der Kranken haben die Krankheit in ihren Knochen und ihrem Blut.
    All diese Leute, die verkrüppelt, verkrümmt oder missgebildet geboren wurden, hat man unter die Erde vertrieben. Ich frage mich, was mit ihnen geschehen wäre, wenn sie über der Erde geblieben wären. Da fällt mir wieder ein, was Raven mir davon erzählt hat, wie sie Blue gefunden hat. Du weißt doch: Deliria-Babys sind verseucht … Vermutlich hätte man sie abgeholt und getötet. Sie hätte noch nicht mal beerdigt werden dürfen … Sie wäre verbrannt und auf den Müll geworfen worden.
    Die Frau wartet meine Reaktion nicht ab und kniet sich vor mich. Julian und ich schweigen beide. Ich will etwas sagen, ihr danken, aber ich finde keine Worte. Ich will den Blick von ihrem Gesicht abwenden, aber ich kann nicht.
    »Danke«, bringe ich schließlich heraus. Ihre Augen huschen zu meinen herüber. Sie sind braun und von dünnen Linien durchzogen. Sie schielt, vermutlich vom Leben in dieser eigenartigen Dämmerwelt.
    »Wie viele waren es?«, fragt sie. Ich hätte damit gerechnet, dass ihre Stimme abgerissen und brüchig klingt, ein Spiegel ihres Gesichts, aber sie ist hoch und klar. Schön. Als ich nicht gleich antworte, sagt sie: »Die Eindringlinge. Wie viele?«
    Ich weiß augenblicklich, dass sie die Schmarotzer meint, obwohl sie sie anders nennt. Ich erkenne es an der Art, wie sie das Wort ausspricht: an der Mischung aus Wut, Angst und Abscheu.
    »Ich weiß nicht genau«, antworte ich. »Mindestens sieben. Vielleicht auch mehr.«
    Die Frau sagt: »Sie sind vor drei oder vier Jahreszeiten gekommen.« Offenbar ist mir die Überraschung über ihre Art zu sprechen anzumerken, denn sie fügt hinzu: »Es ist nicht leicht, hier in den Tunneln die Zeit zu verfolgen. Tage, Wochen – solange wir nicht rausgehen, ist das schwer zu sagen.«
    »Seit wann sind Sie schon hier unten?«, frage ich und habe beinahe Angst vor der Antwort.
    Sie blinzelt mich mit ihren kleinen, schlammfarbenen Augen an. Ich gebe mir große Mühe, nicht ihren Mund und ihr Kinn anzusehen: Dort ist die Entstellung am stärksten, als würde sich ihr Gesicht einrollen wie eine verwelkende Blume. »Ich war schon immer hier«, sagt sie. »Oder fast immer.«
    »Wie …?« Die Frage bleibt mir im Hals stecken.
    Sie lächelt. Ich glaube zumindest, dass es ein Lächeln ist. Einer ihrer Mundwinkel zuckt korkenzieherförmig nach oben. »Die Oberfläche hält nichts für uns bereit«, sagt sie. »Zumindest nichts als den Tod.«
    Es ist also, wie ich dachte. Ich frage mich, ob das immer mit den Babys passiert, die nicht hier herunter- oder zu einem Stützpunkt in die Wildnis gebracht werden.
    »Mein ganzes Leben lang haben die Tunnel uns gehört«, sagt sie. Es fällt mir immer noch schwer, ihre Sprachmelodie mit ihrem Gesicht in Einklang zu bringen, und ich konzentriere mich auf ihre Augen. Selbst in dem schwachen, verrauchten Licht kann ich sehen, dass sie voller Wärme sind. »Leute kommen mit ihren Babys hierher. Hier sind sie in Sicherheit.« Ihr Blick huscht zu Julian und ich bemerke, dass sie seinen unversehrten Hals mustert; dann sieht sie wieder mich an. »Du bist geheilt«, sagt sie. »So nennt man das doch da oben, oder?«
    Ich nicke. Ich öffne den Mund, um einen Erklärungsversuch zu starten – Keine Sorge, ich stehe auf eurer Seite  –, aber zu meiner Überraschung meldet sich Julian zu Wort. »Wir gehören nicht zu den Eindringlingen«, sagt er. »Wir gehören zu niemandem. Wir … wir sind allein.«
    Wir gehören zu niemandem. Ich weiß, dass er das nur sagt, um sie zu beschwichtigen, aber trotzdem tragen die Worte dazu

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