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Pangea - Der achte Tag

Pangea - Der achte Tag

Titel: Pangea - Der achte Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Schlüter
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Sariel.
    »Nicht wirklich«, erklärte Liya. »Sie ernähren sich ausschließlich von Silberspinnen.«
    Silberspinnen hatte Sariel bereits gesehen. Vielmehr ihre Netze, denn die überspannten ganze Bergschluchten bis zu einer Breite von fast hundert Metern. Dabei waren die silbern glänzenden Spinnen selbst nicht größer als ein Daumennagel. Sie lebten jedoch zu Tausenden in riesigen Kolonien im Fels und hatten eine einzigartige Organisationsform entwickelt. Auf den Flugsamen bambusartiger Bäume, die in der Höhe wuchsen, ließen die leichteren Jungspinnen sich vom Wind durch die Luft treiben und sponnen dabei einen ersten Faden quer über ein Tal. Auf diesem Faden kletterten dann Arbeiterspinnen entlang und sponnen weitere Fäden, bis sich ein fast armdickes Tragseil aus Spinnenseide gebildet hatte. Daran knüpften sie senkrechte Seile und dazwischen dann echte Spinnennetze mit klebrigen Fangfäden. Die Silberspinnen fingen jedoch keine Insekten. Insekten kamen in diesen Höhen praktisch nicht mehr vor. In den Netzen verfingen sich nur die Samen der bambusartigen Grasbäume millionenfach. Die Spinnen ernteten die Samen und schafften sie in große Höhlen im Fels, wo sie Bergschweinchen damit fütterten. Bergschweinchen waren die letzten Säugetiere. Sariel hatte noch keines gesehen, denn die fast blinden Tiere lebten ausschließlich unter Tage. So wie Liya sie beschrieb, erinnerten sie ihn an Meerschweinchen.
    »Aber was haben die Spinnen davon, die Bergschweinchen zu füttern?«
    »Na, um sie zu mästen und zu schlachten, natürlich! Nicht dumm, was? Die Königin kriegt immer die fettesten.«
    Liya lachte kurz, und Sariel lief ein Schauer über den Rücken bei dem Gedanken an Spinnen, die Säugetiere hielten wie Menschen früher Kühe oder ... eben Schweine. Gleichzeitig bewunderte er, wie es der Natur gelungen war, selbst in solch lebensfeindlichen Regionen angepasstes Leben hervorzubringen. Die Schöpfung hatte auf Pangea etwas völlig Neues geschaffen und Sariel kam plötzlich ein seltsamer Gedanke. Er erinnerte sich an den Religionsunterricht, den er auf Wunsch seiner Eltern hatte besuchen müssen, obwohl er nicht einmal getauft war. Seine Eltern hatten darauf bestanden, weil diese Religion eben auch zu der Kultur gehörte, in der er aufwuchs. Sariel erinnerte sich an die Schöpfungsgeschichte in der Bibel. Am siebten Tag war der Mensch entstanden. Aber die Schöpfung hatte am siebten Tag nicht einfach aufgehört. Sie hatte weiter Leben hervorgebracht, auch nachdem der Mensch längst ausgestorben war.
    »Der achte Tag«, sagte Sariel plötzlich.
    »Was?«, fragte Liya.
    »Pangea - das ist der achte Tag der Schöpfung. Ich hab immer gedacht, mit dem siebten Tag wär Schluss, die Welt wär fertig und so, aber das stimmt nicht. Es geht immer weiter.«
    Sie blickte ihn fragend an. »Keine Ahnung, wovon du redest. Ist das eine Geschichte? So was wie ein Märchen?«
    »So was Ähnliches.«
    »Dann erzähl es mir!«
    »Vergiss es.« Sariel wandte sich verlegen ab.
    »Sind dir meine Geschichten peinlich?« fragte Liya.
    »Nein! Sie ... sind wunderbar!«
    »Dann wird es Zeit, dass du dich revanchierst.«
    Was sollte man dazu sagen? Sariel hätte nie gedacht, dass er so etwas einmal tun würde. Dass er so etwas überhaupt konnte. Aber an jenem Abend war alles ganz einfach. An jenem Abend erzählte er am Lagerfeuer seine erste Geschichte.
    Die biblische Schöpfungsgeschichte. Und darüber hinaus.
    Sariel erzählte von einem Gott, an den er nie geglaubt hatte, von der Erschaffung der Erde, des Lebens, von Adam und Eva und von der Vertreibung aus dem Paradies. Sariel erzählte von Kriegen und von einer Menschheit, die alles daransetzte, sich selbst zu vernichten. Sariel erzählte ein Märchen von der Entstehung, dem Untergang und der Neuerschaffung der Welt. Er nannte es »Pangea und der achte Tag«, und Liya hörte gebannt zu. Denn wie jede gute Geschichte traf Sariels Märchen einen uralten Kern, eine vergessene Wahrheit, an die sich Menschen nur durch Geschichten erinnern. Und während er erzählte, spürte Sariel wieder ein bisschen Hoffnung für sich selbst. Weil es womöglich auch für ihn immer weitergehen würde.
    Es war tief in der Nacht, als sein Märchen endete. Liya sagte nichts, blickte ihn nur mit einem seltsamen Ausdruck an, ganz anders als zuvor. Schweigend wickelte sie sich in ihren Kyrrschal und rollte sich zum Schlafen ein.
    Auch am nächsten Morgen kein Wort. Allerdings bat sie ihn später beiläufig,

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