Pangea - Der achte Tag
Mondtränen kamen in ausreichender Menge nur an einem einzigen Ort auf Pangea vor: am Fuße des Ngongoni. Der erloschene Vulkan lag inmitten der Siringit, der fruchtbaren Savanne jenseits des Regenschattengebirges, dort wo Liya aufgewachsen war. Der Anblick des schwarzen, über fünftausend Meter hohen Kegelstumpfs des Ngongoni war eine von Liyas ältesten Kindheitserinnerungen. Aber auch für die Kalmare schien der Vulkan von großer Bedeutung zu sein. Frei lebende Königskalmare unternahmen große Wanderungen mit ihren Herden. Alle ihre Routen führten irgendwann durch die Siringit und kreuzten sich um den Ngongoni herum. Und das bedeutete für die Ori, dass der Vulkan und alles, was auf ihm lebte, unter allen Umständen beschützt werden musste. So hatten sie ihre größte Siedlung auch in Sichtweite des Ngongoni errichtet. Orisalaama. Liyas Heimatstadt. Von Orisalaama brachen regelmäßig die großen Karawanen auf und brachten Mondtränen zu den anderen Siedlungen und Oasen.
Liya sehnte sich plötzlich zurück nach Orisalaama, als sie in die große Jurte trat, wo die Kanister mit den Mondtränen lagerten. Bis auf zwei waren bereits alle leer. Es war eine lange Reise gewesen, auf dem letzten Stück bis zur Oase würden die beiden letzten Kanister gerade noch für die Kalmare reichen. Die Ori würden so lange durchhalten müssen. Kalmare waren wichtiger. Das bedeutete aber auch, dass es auf dem letzten Stück keine weitere Verzögerung geben durfte.
Biaos Haut wechselte von einem dunklen Ocker in ein zartes Rosa, als Liya ihn fütterte. Ein Zeichen der Zuneigung. Liya legte den Kopf an die trockene Haut und atmete Biaos vertrauten tranigen Geruch ein, den sie unter tausend Kalmaren erkannt hätte. Biao machte ein leises, schmatzendes Geräusch und berührte Liya sanft mit einem seiner Tentakel am Bein. Liya spürte die Verbindung zwischen ihnen, ein warmes Band, an dem sie sich festhalten konnte in dunkelsten Stunden. Wie jetzt. Einen Kalmar zu berühren, spendete Trost. Liya merkte, wie ihr plötzlich doch die Tränen über die Wangen liefen.
»Liya!« Ihre Mutter stand plötzlich hinter ihr. Liya erschrak und trocknete sich hastig die Tränen ab.
»Was gibt's denn noch?«
Ihre Mutter blickte Liya sanft und ein wenig traurig an.
»Ich habe noch einmal mit deinem Vater gesprochen. Er bleibt bei seiner Entscheidung, aber es bricht ihm das Herz.«
»Sein Problem«, erwiderte Liya.
»Du musst verstehen ... er wäre bestimmt stolz auf dich. Und er weiß so gut wie ich, dass du das Zeug zur Zhan Shi hast. Aber er hält dich für zu unbeherrscht. Du hast deine Gefühle nicht unter Kontrolle und das ist gefährlich für eine Zhan Shi. Der wesentliche Grund für seine Entscheidung ist aber ... dass er Angst um dich hat. Und ich auch. In diesen Zeiten eine Zhan Shi zu werden, ist kein Spiel. Dein Vater hat Träume gehabt, nach langer Zeit wieder. Andere Zhan Shi hatten ähnliche Träume, und sag mir nicht, du nicht auch.«
Liya schwieg. Ihre Mutter hatte recht.
»Jedes Mal wenn viele Zhan Shi solche Träume hatten, erschien ein neuer Sariel. Dein Vater und ich haben einfach Angst, dass du sterben könntest.«
Liya richtete sich auf und blickte ihre Mutter jetzt direkt an. Ihre Mutter hatte ausgesprochen, was Liya schon lange geahnt hatte. Ein neuer Sariel würde bald erscheinen und sich mit einer furchtbaren Waffe zum Ngongoni aufmachen. Die Zhan Shi würden aufbrechen, um ihn aufzuhalten, bevor er den Vulkan erreichte. Das Überleben ihres Volkes hing davon ab, ob sie ihn rechtzeitig erwischten. Liya hatte ihr ganzes Leben davon geträumt, dabei zu sein, wenn die Zhan Shi loszogen, und wurde plötzlich sehr ruhig. Sie wusste, was sie tun musste. Biaos Haut wechselte augenblicklich in ein schmutziges Blaugrau. Liyas Mutter bemerkte es und runzelte die Stirn.
»Bist du nur gekommen, um mir das zu sagen?«
»Nein. Denn wir alle müssen unsere Angst überwinden, auch eine Mutter. Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, zu welchen Dummheiten du fähig bist, wenn es darum geht, deinen Willen durchzusetzen. Um zu verhindern, dass du uns im Zorn verlässt, werde ich mich also beim Rat dafür einsetzen, dass du in die Kaste aufgenommen wirst. Wenn es mir auch das Herz zerreißt.«
Liya empfand plötzlich große Zärtlichkeit für ihre Mutter. Ihre wunderbare, schöne Mutter. Prompt kamen ihr wieder die Tränen.
»Aber wenn du immer noch bei jeder Kleinigkeit losheulst, wird das wohl nichts«, sagte ihre Mutter
Weitere Kostenlose Bücher