Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pangea - Der achte Tag

Pangea - Der achte Tag

Titel: Pangea - Der achte Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Schlüter
Vom Netzwerk:
hatte die Natur zu einem einzigartigen Trick gegriffen und aus zwei Lebewesen eines gemacht. Haut und Körper eines Kyrr waren zwei verschiedene Organismen, die in enger Symbiose lebten. So eng, dass sie durch ein gemeinsames Nervensystem, durch Adern und Gewebefasern untrennbar miteinander verbunden waren. Das Fleisch eines Kyrr schmeckte widerlich, aber auf monatelangen Wüstendurchquerungen durfte man nicht wählerisch sein. Was den Kyrr aber so kostbar machte, war seine Haut. Die Haut des Kyrr allein war ein Wunderwerk der Natur und schützte seinen Wirt durch eine besondere Zellart, die die Hitze der Wüste von außen in Kühle nach innen umwandelte. Umgekehrt funktionierte es genauso. Die Haut des Kyrr war eine lebende Klimaanlage.
    Solange sie eben lebte.
    Man musste den Kyrr durch einen Stich an einer bestimmten Stelle am Kopf töten und ihm die Haut in einem komplizierten Verfahren abziehen, nur dann blieb die Haut unversehrt und weiter am Leben, auch wenn sein Wirt bereits tot war. Nur wenige Gerber bei den Ori verstanden sich auf diese Technik. Entsprechend selten und entsprechend teuer waren Kyrrschals. Und der von Liya war ein besonders großes Exemplar, fast zwei Meter lang und breit genug, dass sie sich fast vollständig darin einwickeln konnte. Dabei so leicht und fest und dünn wie Seide. Man musste Kyrrschals nur regelmäßig in Mondtränentee wässern, dann hielten sie jahrelang, bis sie allmählich abstarben und vertrockneten.
    Liya hatte den Kyrrschal für ein sicheres Zeichen gehalten, dass ihre Eltern sie zu den Zhan Shi würden gehen lassen. Voller Stolz hatte sie den Schal in den ersten zwei Nächten nicht abgelegt und sich auch nicht darum geschert, als Leisi und Liao sie deswegen hänselten.
    Nun wirkte der Schal wie eine vorweggenommene Entschädigung. Liya hätte ihn am liebsten weggeworfen, aber das wäre sehr töricht gewesen. Sie wusste, was sie an ihrem Schal hatte. In der Wüste konnte ihr Leben davon abhängen.
    Liya dachte an ihre Heimat in der Nähe des Ngongoni und fragte sich, ob sie die Savanne jemals wiedersehen würde. Aber sie hatte eine Entscheidung getroffen und zwang sich, zu überlegen, was sie als Nächstes tun sollte. Auf der Stelle zur Oase reiten oder sich gedulden und auch das letzte Stück noch im Schutz der Karawane ziehen, auf die Gefahr hin, dass ihr Vater ihren Plan durchschaute und vor ihr mit dem Gon Shi sprach.
    Sie wusste allerdings auch, dass es völliger Wahnsinn war, alleine durch die Wüste zu reiten. Nicht nur, dass ihr Kalmar sich ohnehin stur geweigert hätte. Selbst für eine Ori wie Liya, die fast ihr ganzes Leben in der Wüste verbracht hatte und über die Gabe verfügte, war es lebensgefährlich. Jetzt, im ersten rötlichen Morgenlicht sah die Regenschattenwüste friedlich und wie verzaubert aus, aber innerhalb weniger Augenblicke konnte sie sich in ein tödliches Monster verwandeln. Von einem Augenblick auf den nächsten konnten mörderische Sandstürme losbrechen, in denen man ohne Schutz innerhalb von Sekunden qualvoll erstickte. Man konnte Tausenden widerlicher Gigamiten zum Opfer fallen und von ihnen in kürzester Zeit bis auf die Knochen abgenagt werden.
    Man konnte auf einen hungrigen, verirrten Lauskäfer treffen, der einem das Blut und sämtliche Körperflüssigkeiten aussaugen und die Hülle achtlos zurücklassen würde.
    Man konnte verbrennen oder erfrieren. Man konnte verdursten. Man konnte einen Fehler machen.
    In dieser größten Wüste seit Entstehung der Erde stiegen die Temperaturen tagsüber auf bis zu 80 Grad, nachts sanken sie auf bis zu minus 30 Grad ab. Diese gewaltigen Temperaturunterschiede hatten ganze Gebirge pulverisiert. Die Luft enthielt fast keinerlei Feuchtigkeit, weil alles am Regenschattengebirge im Süden abregnete. Liya hatte entlang der Karawanenwege oft mumifizierte Tiere und auch Ori gesehen. Sie wusste, dass ohne den Schutz der Karawane bereits eine Flasche Wasser zu wenig, ein Riss im Kyrrschal tödlich sein konnte. Die Wüste war menschenfeindlich.
    Weil Menschen auf Pangea seit zweihundert Millionen Jahren nicht mehr vorgesehen waren. Die Menschheit war schon lange ausgestorben. Mit der eingeschlossenen Stadt der Sari und den Siedlungen der Ori waren die Menschen nur Fremdkörper. Wie eine Krankheit, dachte Liya manchmal. Für diese Welt sind wir eine Krankheit. Wie lange wird es dauern, bis sich die Welt von uns geheilt hat?
    Eine Böe erwischte sie und schmirgelte ihr Sand ins Gesicht. Liya duckte sich,

Weitere Kostenlose Bücher