Pangea - Der achte Tag
lächelnd und strich ihr zärtlich mit dem Daumen die Tränen von den Wangen.
»Ich liebe dich, Liya.«
»Ich liebe dich auch, Mama.«
Die Sonne hatte noch nicht ganz den Horizont überschritten, als die Karawane sich formierte und in Bewegung setzte. Die Kalmare spürten, dass die Oase nicht mehr fern war, und legten ein so frisches und zügiges Tempo vor, wie man es nach einer wochenlangen Reise fast nicht mehr erwartet hätte. Eine Karawane aus zweihundert Königskalmaren im Morgenrot war ein erhabener, majestätischer Anblick, der Liyas Herz immer noch höher schlagen ließ. Auf ihren sechs Beinen glitten die Kalmare mehr über den Boden, als dass sie ausschritten. Von Weitem sah es aus, als schwebten sie über den Boden. Liya saß in einem speziellen Sattel auf Biao und spürte nicht das leichteste Schwanken, nicht die kleinste Bodenunebenheit. Ihr Vater führte die Karawane natürlich an. Gleich hinter ihm ritt ihre Mutter mit dem kleinen Lou im Schoß. Sri, der zweite Karawanenführer, folgte, dann kamen ihre Brüder Leisi und Liao, zwei Lastkalmare und dahinter erst Liya. In einer Karawane hatte jeder seinen zugewiesenen Platz, den man niemals verlassen durfte. Auch das gehörte zu den strengen Uberlebensregeln in der Wüste.
Ihr Vater wandte sich einmal kurz nach Liya um und nickte ihr zu. Ein warmes Gefühl stieg in Liya auf, dennoch reagierte sie nicht. Bald würde sie ein neues Leben führen, fern von ihrer Familie. Sentimentale Gefühle konnte sie sich nicht mehr erlauben.
Gegen Mittag stiegen die Temperaturen auf mörderische 60 Grad. Liya wickelte sich fester in ihren Kyrrschal ein und drehte sich um. Die Kalmare schienen die Hitze nicht zu spüren und glitten mit unvermindertem Tempo über den glühenden Sand. Liyas Wut hatte sich gelegt. Sie freute sich jetzt auf Ori-Nho-Yuri. Wie jede Siedlung wurde die Oase von einem Gon Shi und einem Ältestenrat geführt, dessen Entscheidungen und Urteilssprüche absolut bindend waren. Liyas Vater hatte gute Chancen, in den nächsten Jahren in den Ältestenrat von Ori-Nho-Yuri aufgenommen zu werden. Er war bereits neununddreißig Jahre alt und galt daher als ein Mann mit viel Erfahrung.
Wie jede Ori kannte Liya die Geschichte der Gründung von Ori-Nho-Yuri auswendig. Vom Karawanenführer Dho, der die Oase vor langer Zeit in einem Traum seines Kalmars gesehen hatte und mit ihm dorthin aufgebrochen war. Wie er halb verhungert und todkrank durch Mondtränenmangel die Oase erreicht und dort Mondtränen entdeckt hatte. Sogar ein unterirdisches Wasserreservoir. Wie die Ori die Oase zum heiligen Ort erklärt und besiedelt hatten. Weil man ganz einfach dort siedelte, wo es Mondtränen gab.
Später wurde die Oase dann zum Zentrum der Zhan Shi. Hier war sie gegründet worden und hier hatte sie immer noch ihr Hauptquartier. Liya freute sich auf das quirlige Leben, die verwinkelten Gassen, die wegen der Hitze so eng angelegt waren, dass Kalmare nur die Hauptwege passieren konnten. Wenn es dunkel wurde, war die Siedlung beleuchtet vom bläulichen Licht tausender Mimis, einer Pflanzenart, die das Sonnenlicht speicherte und nachts wieder abgab. Liya erinnerte sich an den Geruch der Werkstätten, wo Shi und allerlei andere Druckluftgeräte hergestellt wurden.
Neben einer Art Machete, die vielseitig verwendbar war, bestand die traditionelle Bewaffnung der Zhan Shi nur aus einer Druckluftharpune, dem Shi. Das Shi war ein kurzes, leichtes Rohr mit einer Druckluftkammer, die flüssigen Stickstoff enthielt, und einer Wasserkammer. In den Jahrhunderten vor dem Großen Zeitsprung hatten die Ori nach Kompromissen zwischen einer natürlichen Lebensweise und dem mäßigen, sinnvollen Einsatz von Technik gesucht und dabei die Vorzüge der Druckluft entdeckt. Die Ori nutzten eine physikalische Entdeckung der Sari und entwickelten ein geniales Verfahren, Luft auf sehr einfache Weise zu verflüssigen und in einem speziellen Kunststoff sicher und unkompliziert zu speichern. Danach ließ sich erstaunlich viel mit der Druckluft anstellen. Die Druckluftbehälter waren leicht und stabil, hielten Hitze und groben Stößen stand und konnten Druckluft bis zu fast tausend Bar speichern. Zelte ließen sich damit in Sekunden aufbauen, Maschinen betreiben und sogar Strom erzeugen. Da die Ori Waffen nur zur Jagd brauchten, hatten sie nur eine einzige Waffe entwickelt - das Shi. Das Prinzip des Shi war einfach: Durch ein ausgeklügeltes System im Rohr verwandelte der ausströmende Stickstoff eine
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