Pangea - Der achte Tag
hustete und spuckte den Sand in ihren Schal. Das nahm sie als Zeichen. Würde sie eben das letzte Stück mit ihrer Karawane reiten. Danach jedoch würde sie keine Familie mehr haben.
Liya ging hinüber zu den Kalmaren. Die Tiere lagerten unmittelbar hinter den Jurten. Die Nacht über hatten sie ihre uralten Träume geträumt. Jetzt mit der einsetzenden Morgendämmerung wurden sie unruhig. Schon sehr bald würde es heiß werden, und sie brauchten Mondtränen, um die Hitze überstehen zu können.
Die Kalmare waren gigantische Wesen, Nachfahren der Oktopusse, die zu Zeiten des Menschen die Meere bevölkert hatten und mit Knoblauchsoße verzehrt worden waren. Dabei waren sie schon damals erstaunlich intelligent gewesen. Lebewesen, die fast unverändert seit Urzeiten existierten. Einige Jahrmillionen nach der Großen Katastrophe hatte die Evolution der Kalmare begonnen. Sie hatten sich allmählich an Land gewagt, waren zu Amphibien geworden und später zu reinen Landbewohnern. In der Welt, in der Liya lebte, gab es einige hundert Arten von Kalmaren. Die Kleinsten waren kleiner als Käfer, die großen Königskalmare hätten einen ausgewachsenen Elefanten aus Huans Zeit überragt. Ihre Tentakel hatten sich zu massiven Beinen ausgebildet, Saugnäpfe waren nur noch rudimentär zu erkennen. Wenn Kalmare schliefen - und seltsamerweise brauchten sie viel Schlaf -, dann senkten sie sich mit ihren massigen Leibern auf den Boden hinab und ringelten ihre Tentakel mit verblüffender Anmut ein. Ein Königskalmar konnte bis zu neun Tonnen wiegen und das Doppelte seines eigenen Gewichts tragen und dennoch zart wie eine Porzellanfigur wirken. Ohne Königskalmare wäre eine Wüstendurchquerung unmöglich gewesen. Sie überhaupt Tiere zu nennen, verbot sich fast, denn sie strahlten eine erhabene, feierliche Würde aus und besaßen überdies eine außerordentliche Intelligenz. Wenn der Mensch nur ein Fremdkörper in dieser neuen Welt war, vermutete Liya, dann waren die Kalmare ihre wahren Herrscher. Deswegen behandelte Liya ihre Kalmare auch mit größtem Respekt. Sie vergaß nie, sie pünktlich jeden Morgen mit Mondtränen zu füttern, und achtete darauf, dass die Gurte, mit denen die Lasten verzurrt wurden, ihnen nicht in die erstaunlich weichen Tentakel schnitten. Liya liebte die riesigen Kopffüßler und fragte sich oft, warum sie sich so bereitwillig als Reit- und Lastentiere einsetzen ließen. Vielleicht, dachte Liya manchmal, war das Teil eines großen weisen Plans der Kalmare, und sie hoffte, dass sie darin ebenfalls eine kleine Rolle spielte.
Sie ahnte nicht, wie nahe sie damit der Wahrheit kam.
Biao spürte ihr Kommen und richtete sich auf. Liya konnte seine Unruhe fast körperlich spüren, und sie wusste, dass auch er ihre Wut und Enttäuschung deutlich spürte. Biao stieß ein leichtes Schnaufen aus und streckte Liya einen Tentakel entgegen. Eines seiner gewaltigen Augen, so groß wie Liyas Kopf, blinzelte ihr zu.
Liya tätschelte den ausgestreckten Tentakel. Die Haut fühlte sich straff und rau an. Obwohl ihre Ursprünge in der Tiefsee lagen, waren Königskalmare bestens an ein Leben in der Wüste angepasst. Die Unterseiten ihrer Tentakel waren unempfindlich gegen den heißen Sand. Ihre Haut schützte sie vor dem Austrocknen und konnte je nach Sonnenstand oder Gefühlslage des Kalmars die Farbe wechseln. Tagsüber glänzte die Haut fast metallisch und speicherte die Hitze in einer dicken Zwischenschicht, um sie nachts dann wieder abzugeben. Aber die Regenschattenwüste bedeutete selbst für Königskalmare eine gewaltige Strapaze. Wie alle Lebewesen brauchten auch sie Wasser und Nahrung. Und Mondtränen. Der weißliche, leicht schleimige Pilz, der gebraten und gegrillt eine zähe, faserige Konsistenz annahm, schmeckte gut, spendete Energie und Trost, schärfte die Sinne, machte die Ori unempfindlich für Anstrengungen und Schmerzen. Solange man regelmäßig Mondtränen aß, konnte man seinen Kalmar spüren. Ohne Mondtränen wurde man jedoch schnell krank und starb innerhalb weniger Tage. Zunächst stellte sich ein unangenehmes Schwächegefühl ein, am zweiten Tag kamen Fieberschübe hinzu. Am dritten Tag ohne Mondtränen traten Lähmungen auf, zuerst in den Armen und Beinen, aber sie erstreckten sich schnell auch auf die Atemorgane. Bis man spätestens am vierten Tag qualvoll erstickte.
Liya wusste nicht viel über diese rätselhafte Krankheit, sie wusste nur, dass Mondtränen der einzige Schutz dagegen waren. Und
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