Pangea - Der achte Tag
Wille war stärker.
»Bedenke immer, dass die Angst nur ein Schatten ist«, sagte Zhe. »Die Angst hat keinen Körper.«
Das war genau die Art von Ratschlägen, auf die Liya in diesem Moment hätte verzichten können. Sie hockte sich an den Rand des Lochs. Von unten zog ein eiskalter Lufthauch zu ihr herauf und zerrte förmlich an ihren Beinen. Die Angst mochte ein Schatten sein, und sie mochte keinen Körper haben - aber sie konnte wachsen und einem den Atem rauben.
»Steige so tief hinab, wie es geht«, erklärte ihr der Gon Shi. »Dann bleib dort, bis ich dich rufe.«
Liya wollte fragen, wie lange das sein würde, verkniff sich jedoch jede weitere Frage, atmete noch einmal durch, stützte sich mit beiden Armen am Rand des Lochs ab und ließ sich langsam abwärtsgleiten. Ihre Füße spürten keinen Grund, aber immerhin musste sie nicht fürchten, abzustürzen. Das Loch war so eng, dass Liya sich mit aller Kraft nach unten durchquetschen musste. Ihre Schultern schrammten gegen die Wände des Lochs und kamen nicht durch.
»Es geht nicht!«, rief sie erleichtert. »Ich passe nicht durch!«
»Heb die Arme!«, riet ihr der Gon Shi, »und beug die Schultern vor.«
Liya nahm den Rest des Mutes zusammen, der ihr noch geblieben war, und tat wie geheißen. Nun passte sie so gerade eben durch das Loch und konnte sich langsam nach unten vorarbeiten, die Arme die ganze Zeit nach oben ausgestreckt wie eine Schwimmerin vor dem Absprung.
Nach einigen Metern ging es leichter. Das Loch verbreiterte sich etwas, Liya fand genug Halt an den Wänden für die Füße und fühlte sich mit jedem Schritt etwas sicherer. Der Fels zerschrammte ihr zwar Beine und Arme, aber der Schmerz verdrängte immerhin die Angst ein wenig.
Liya stieg immer weiter hinab. Die Öffnung über ihr verschwand, und Liya wusste bald nicht mehr, ob sie stand oder lag. Sie schwebte mit ausgestreckten Armen irgendwo im Nichts, eingehüllt in Angst und Dunkelheit und in einen zunehmend fauligen Gestank. Ihre Füße rutschten an etwas Glitschigem ab und ihre Hände griffen in etwas Weiches, das sich leicht vom Fels ablösen ließ und keinen Halt bot. Irgendwo unter ihr verweste etwas sehr Großes. Oder schlimmer: Es lebte noch.
Liya hatte einmal gehört, wie man angeblich mit unerträglichem Gestank fertig wurde. Man musste in vollen Zügen einatmen, um sich möglichst schnell daran zu gewöhnen. Je mehr man zögerte, desto schlimmer würde die Übelkeit. Aber das schaffte sie nicht. Sie wollte nur noch zurück, nach oben, nach draußen in die klare Wüstenluft, und verfluchte sich für den Einfall mit der Entführung der Kalmare. Das hier, die Enge, die Dunkelheit, der Gestank und die zunehmende Todesangst, war es nicht wert. Das war keine Prüfung, das war Folter. Eine Strafe für ihren Trotz.
Liya versuchte, wieder hinaufzuklettern. Doch zu ihrem Entsetzen ging es nicht. Den engen, glitschigen Schacht hinabzurutschen war kein Problem gewesen - ihn jedoch wieder hinaufzuklettern schien schier unmöglich. Die Füße glitten ab, die Hände fanden nichts zum Festhalten. Je mehr sich Liya anstrengte, desto tiefer sackte sie hinunter. Panik befiel sie. Verzweifelt tastete sie um sich, versuchte, sich mit den Händen irgendwo festzukrallen. Hektisch trat sie mit den Beinen wie eine Ertrinkende, um irgendwo noch Halt zu finden. Aber wie es aussah, war sie genau das - eine Ertrinkende. Die Dunkelheit zerrte an ihr wie eine tiefe Meeresströmung.
Liya schrie. Und noch mal. Lauter. So laut sie konnte. Doch ihr Schrei zitterte nur kurz durch den Schacht und erstarb wenige Meter über ihr. Niemand hörte sie hier unten. Niemand würde ihr helfen.
Als ihr das klar wurde, spürte sie zum ersten Mal, was Zhe gemeint hatte. Die Angst war ein Schatten. Die Angst war um sie herum, klebte überall an ihr, körperlos und kalt, krallte sich an Liya und versuchte, in sie einzudringen wie ein einsames Wesen auf der Suche nach etwas Wärme. Und Liya verstand, dass sie das nicht zulassen durfte, wenn sie nicht sterben wollte, hier und jetzt in diesem Schacht. Die Angst war zwar nur ein Schatten, aber dieser Schatten konnte sie auffressen.
Er war ja schon dabei, sie aufzufressen.
Liya versuchte, sich zu beruhigen, gleichmäßig zu atmen, ihre verkrampften Hände und Beine zu lockern. Von ihrem Vater hatte sie gelernt, dass man nicht gleichzeitig entspannt sein und Angst haben konnte. Das eine verdrängte das andere. Also konzentrierte Liya sich auf einen Muskel nach dem anderen,
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