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Pangea - Der achte Tag

Pangea - Der achte Tag

Titel: Pangea - Der achte Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Schlüter
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um ihn zu lockern. Nicht leicht. Aber Liya hatte als kleines Mädchen oft nachts in der Wüste bei den Kalmaren wachen müssen und hatte gelernt, mit der Furcht vor der Dunkelheit umzugehen. Diese Dunkelheit jetzt um sie herum war anders als die sternklare Unendlichkeit der Wüste. Aber das Gefühl absoluter Trostlosigkeit und Einsamkeit war das Gleiche. Und Liya erinnerte sich, wie sie dieses Gefühl als kleines Mädchen aus ihrem Herzen verbannt hatte. Es gab einen Trick dabei.
    Sie musste bloß an ihre Mutter denken.
    Zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Mutter dachte Liya nicht mehr mit Trauer an sie, sondern stellte sie sich vor, wie sie ausgesehen hatte in den schönsten gemeinsamen Augenblicken. Ihr weiches Gesicht, die sanfte Stimme, die Fingerspitzen auf ihrer Stirn, wenn sie ihr die Haare zurückstrich.
    Das Rascheln ihres Umhangs am Morgen, kurz vor dem Wecken. Ihr Kuss vor dem Schlafengehen.
    Und die Angst verschwand. Liyas Muskeln entspannten sich und mit einem erleichterten Seufzer gab sie sich ganz der Erinnerung hin. Das Bild ihrer Mutter verdrängte den dunklen Schatten, der an Liya klebte, und hüllte sie wohlig ein, ganz und gar. Ihre Mutter war Schutz und Trost, und in diesem Moment, irgendwo tief in einem Schacht in der Regenschattenwüste, war sie Liya näher als je zuvor.
    Danke, Mama!
    Liya konnte fast die Lippen ihrer Mutter auf den Augenlidern spüren. So warm und beruhigend. Doch dann schien ihre Mutter plötzlich einen Schritt zurückzutreten, nicht weit, nur einen Schritt. Liya zuckte zusammen.
    Nein! Geh nicht weg!
    Keine Angst, Liya. Ich will dir etwas zeigen!
    Liyas Mutter machte Platz für ein anderes Bild. Das Bild eines Jungen in ihrem Alter. Liya hatte ihn noch nie gesehen, und doch hatte sie das Gefühl, ihm schon einmal begegnet zu sein. Er trug seltsame Kleidung, vermutlich ein Sari, denn er wirkte zu weich und gepflegt für einen Ori. Der Junge blickte sie an. Ruhig und ernst, als erwarte er, dass Liya ihn anspreche. Als habe er auf sie gewartet.
    Seltsamer Junge mit seltsamen Augen. Große Augen. Müde Augen. Der Junge wirkte blass und schwächlich. Nicht auf der Hut. Träge, als ob ihn nichts auf der Welt so recht interessiere. Ein ausgemachter Schwächling. Was also war so beunruhigend an diesem Jungen?
    Liya betrachtete den Jungen und allmählich kam er ihr schon bekannter vor. In einem fast vergessenen Traum hatte sie ihn einmal vor dem Ertrinken gerettet. Aber diese Rettung war offenbar ein Fehler gewesen, ein großer Fehler. Denn mit der Erinnerung an den Traum begriff Liya, wer der Junge war: der Sariel.
    Der Feind.
    Das Bild des Jungen löste sich auf und Liyas Mutter trat wieder an die Stelle.
    Du wirst ihm bald begegnen. Er ist schon da. Pass auf dich auf.
    Dann löste sich auch das Bild ihrer Mutter wieder auf, und Liya blieb allein zurück, immer noch gefangen in dem glitschigen Schacht. Liya wusste, dass sie keine Zeit mehr zu verlieren hatte. Die Angst würde bald zurückkehren und bis dahin musste sie nach oben geklettert sein. Also konzentrierte sie sich und tastete mit den Fingerspitzen gründlich die Wände des Schachtes ab, bis sie einen kleinen Vorsprung fand, der genug Halt bot. Das Gleiche machte sie mit den Füßen, presste Ober- und Unterschenkel mit aller Kraft gegen die Schachtwand und schob und zog sich dann einige Millimeter nach oben. Nur wenige Millimeter. Liya keuchte vor Anstrengung, aber der Erfolg gab ihr neue Kraft. Sie versuchte es wieder und schaffte weitere Millimeter. Aus Millimetern wurden Zentimeter und aus Zentimetern langsam und mit größter Anstrengung schließlich der erste Meter. Die Schachtwand wurde wieder trocken und griffig, und nach unendlich langer Zeit, wie ihr schien, kletterte Liya wieder aus der Schachtöffnung in die unterirdische Halle, wo Zhe sie geduldig und mit einem zufriedenen Lächeln erwartete.
    Als Liya ganz aus dem Loch hinaus war, ließ sie sich nach hinten auf den Boden fallen, schloss die Augen und keuchte vor Erschöpfung.
    »Was hast du da unten gesehen, Liya?«, fragte sie der Gon Shi ruhig.
    »... den Sariel«, keuchte Liya und öffnete die Augen.
    »Bist du ganz sicher?«, fragte Zhe nach. Seine Stimme klang ernst, aber plötzlich ohne Strenge.
    »Ja!«, erwiderte Liya entschlossen. »Kein Zweifel. Die Sari haben einen neuen Sariel!«
    Der Gon Shi wirkte auf einmal müde und alt. Traurig sah er aus. Als hätten alle Sariel der letzten Jahrhunderte ihn persönlich verfolgt und er fände kein Mittel mehr,

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