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Pangea - Der achte Tag

Pangea - Der achte Tag

Titel: Pangea - Der achte Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Schlüter
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Position der vier Himmelsrichtungen. Hier gab es auch Licht, Hunderte von Fackeln erhellten die Halle fast schattenlos und ließen ein prächtiges buntes Bodenmosaik erkennen, das in einer großen Spirale Legenden der Ori nacherzählte, noch aus der Zeit vor der Reise in die Zukunft. Legende reihte sich an Legende und folgte der Form der Spirale auf die Mitte der Halle zu, wie von einem mächtigen Sog angezogen. Nur der Platz in der Mitte war noch frei. Dort stand Zhe und erwartete Liya.
    Er schien nicht sonderlich überrascht, dass Liya ihn gefunden hatte, und winkte sie mit leichter Ungeduld näher.
    »Weißt du, warum du hier bist?«, rief Zhe.
    »Weil ich Euch gefunden habe, Meister!«, erwiderte Liya und wählte diesmal die korrekte Anrede.
    »Falsch!«, rief der Gon Shi. »Du bist hier, weil du auserwählt wurdest. Nicht von mir. Ich hätte dich niemals auserwählt, du bist egoistisch, unbeherrscht und eitel. Aber die Kalmare haben zu mir gesprochen und mir damit das größte Geschenk meines Lebens gemacht. Die Kalmare wünschen, dass du eine Zhan Shi wirst.«
    Liya erwiderte nichts. Sie war viel zu aufgeregt. Sie ahnte plötzlich, dass sie die ganze Zeit über Teil eines großen Plans gewesen war, den die Kalmare - möglicherweise alle Kalmare dieser Welt - untereinander ausgebrütet hatten. Und wie immer dieser Plan auch aussah, sie hatten ihr einen Platz darin zugewiesen.
    »Ich bin bereit!«, sagte sie so würdevoll und feierlich wie möglich.
    Die Antwort war schallendes Gelächter. »Du bist noch eitler, als ich befürchtet habe, Tochter von Chuang Shi!«, rief Zhe und hustete ärgerlich. »Du hast keine Ahnung, was dich erwartet. Eigentlich müsste jetzt deine zweijährige Ausbildung beginnen, aber so viel Zeit haben wir nicht. Komm näher!«
    Er winkte Liya ungeduldig heran, die immer noch in sicherer Distanz zu dem Gon Shi stand. Liya gehorchte vorsichtig und misstrauisch. Sie war am Ziel ihrer Träume, dennoch gefiel ihr das Ganze nicht. Überhaupt nicht. Sie hatte ihr Leben lang geträumt, in die Kaste der Zhan Shi aufgenommen zu werden - aber eben so wie alle anderen auch. Mit einer Prüfung und einer feierlichen Zeremonie, die vielleicht ein stolzes Lächeln auf das Gesicht ihres Vaters gezaubert hätte oder einen Anflug von Neid auf die Gesichter ihrer Brüder. Aber diese Heimlichkeit des Gon Shi, das ganze Verschwörerische irritierte sie. Und zum ersten Mal in ihrem Leben fragte sich Liya, ob sie wirklich eine Zhan Shi sein wollte. In dem Moment, als sie näher an den Gon Shi herantrat, vermisste sie plötzlich Biao, ihren Kalmar, die klaren Wüstennächte und den Rhythmus der Karawane, die sich gemächlich von einem Ort zum anderen bewegte und dann wieder zurück, immer wieder, ein ganzes Leben lang.
    Aber für solche Wünsche war es nun zu spät. Als Liya dicht vor dem Gon Shi stand, trat er etwas zur Seite und beugte sich zum Boden hinunter, der an dieser Stelle nicht von dem spiralförmigen Mosaik, sondern mit feinem Sand bedeckt war. Zhe wischte mit beiden Händen den Sand weg und legte einen Eisenring darunter frei. Mit einem kräftigen Ruck an dem Ring wuchtete Zhe eine runde Eisenplatte zur Seite. Darunter lag ein Loch, gerade mal so groß, dass Liya mit Mühe hindurchgepasst hätte. Ein unangenehmer, muffiger Geruch dunstete ihr aus dem Loch entgegen. Dunkelheit gähnte sie an und die Ahnung, dass dieses Loch sehr tief sein musste, tiefer, als sie sich vorstellen konnte. Und sie wusste bereits, was kommen würde.
    »Steig hinunter!«, befahl der Gon Shi.
    Niemals!
    »Warum?«, fragte Liya, um Zeit zu gewinnen und sich die Angst vor dem Loch, vor der Enge, der Dunkelheit, dem Geruch und der Tiefe nicht anmerken zu lassen. Auf keinen Fall würde sie da hinabsteigen!
    »Die erste Regel, die du lernen musst, um eine Zhan Shi zu werden, ist: Du tust immer, was dein Meister befiehlt, ohne Widerspruch, ohne Fragen, ohne Zögern. Steig hinunter!«
    Niemals!
    »Und wie lautet die zweite Regel?«
    »Es gibt keine zweite Regel.«
    Liya konnte einfach nicht. Blieb wie angewurzelt stehen und sah, wie ein Anflug von Enttäuschung das Gesicht des Gon Shi verdüsterte und die letzte Chance forttrug, je eine Zhan Shi zu werden.
    »Dann haben sich die Kalmare diesmal offenbar geirrt.« Der Gon Shi bückte sich, um die Eisenplatte wieder an ihre Stelle zu wuchten.
    »Ich mach's!«, rief Liya und trat einen Schritt vor. Die Angst schloss sich wie eine Faust um ihre Kehle und drückte eisern zu. Aber Liyas

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