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Panic

Panic

Titel: Panic Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark T. Sullivan
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helfen kann«, meinte Kevin. »Tim Dunne – du weißt schon, dieser Trauertherapeut, dessen Buch wir verlegen.«
    »Ich komm schon klar«, wehrte ich ab.
    Kevin drehte sich um und ging.
    Eines Nachts im Februar erschien mir dann im Traum der Hirsch. Der Zehnender rannte über eine verschneite Lichtung unter einem seltsam blauen Himmel. Das Tier blieb auf einem Hügel stehen und blickte zurück. Die Zunge hing ihm seitlich aus dem Maul, und seine Flanke war schweißnass. Er stand ein paar Momente keuchend da, ehe er die Lippen kräuselte, die Luft befeuchtete, um mit geblähten Nüstern die Witterung aufzunehmen. Er schnaubte, urinierte sich über die Fesselgelenke und schüttelte das Geweih, als wollte er seinen Verfolger herausfordern. Dann drehte er sich um und war im Nu hinter dem Hügel verschwunden.
    So wie ich erzogen worden war, hatte man einem Tier, das einem im Traum erschien, unbedingt zu folgen. Doch das alles hatte ich hinter mir gelassen.
    Einen Monat lang träumte ich Nacht für Nacht denselben Traum, und am Ende wurde ich weich. An einem Montagmorgen im März fuhr ich an der Ausfahrt vorbei, die zur Arbeit geführt hätte, und fuhr stattdessen auf der Route 45 weiter bis hinunter ins südliche Maine. Am späten Morgen hatte ich endlich die richtige Mischung aus Feldern, Büschen und hohen Hölzern gefunden, in dem Hirsche sich wohl fühlen.
    Ich ließ die Wagentür offen stehen und stapfte in meinen eleganten Lederstiefeln an einem Getreidefeld entlang, das ein Farmer hatte stehen lassen. Nach mehreren hundert Metern stieß ich auf eine breite Spur im Schnee. Ich kniete mich hin und zeichnete mit dem Finger die innere Kante des gespaltenen Hufabdrucks nach. Der verhältnismäßig weiche Schnee verriet mir, dass die Spur frisch war. Ich ging ihr nach, kämpfte mich eine halbe Meile durchs Heidekraut, bis ich einen dicht mit Kiefern bewachsenen Südhang erreichte.
    Der Hirsch lag wahrscheinlich irgendwo oberhalb der Waldgrenze, um sich in der Wintersonne zu wärmen. Nur wo? Seit ich das letzte Mal einem Weißwedelhirsch gegenübergestanden hatte, waren Jahre vergangen. Doch genau wie eine Sportlerin, die sich daran erinnert, wie sich bei Höchstform ihre Muskeln anfühlen, beschloss ich, eine der subtilsten Jagdtaktiken meines Vaters zu versuchen. Ich würde die Kontrolle über meinen Herzschlag aufgeben, bis er sich den Rhythmus eines anderen Lebewesens angeeignet hätte, nämlich des Lebewesens, das ihm am nächsten war.
    Es war auch Jahre her, seit ich die geistige Einheit zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren herzustellen versucht hatte, und selbst in meiner empfänglichsten Zeit als Teenager hatte ich nur ein schwaches Flattern in der Brust gespürt, wenn ein Hirsch in der Nähe war. Trotzdem ging ich in die Hocke und schloss die Augen, bis die Anspannung von mir abglitt.
    Nach fünf Minuten spürte ich meinen Atem kommen und gehen wie die Brandung. Nach weiteren zehn fühlte ich, wie das Blut durch meine Adern gepumpt wurde. Doch den wachsamen, intelligenten Geist des Rotwilds vermochte ich nicht wahrzunehmen.
    Ich machte die Augen wieder auf und schalt mich überheblich. Schließlich waren fünfzehn Jahre vergangen. Ich musste ganz von vorn anfangen. Ein Neuanfang begann mit Demut. Ich musste zu den Grundlagen zurückkehren.
    Ich ging um die Kiefern herum, bis der Wind mir direkt ins Gesicht blies. Ein Hirsch misstraut vielleicht seinen Augen und Ohren, aber niemals seiner Nase. Um sich an einen Hirsch heranzupirschen, durfte man daher nicht zulassen, dass er einen witterte. Während ich in den Wind schnupperte, bahnte ich mir einen Weg durchs spröde Unterholz. Alle paar Augenblicke blieb ich stehen und spähte durchs Geäst, in der Hoffnung, das Tier zu entdecken.
    Da trat ich auf einen Zweig. Im selben Moment brach der Hirsch aus seiner Deckung, und den weißen Wedel steil nach oben gestellt, sprang er nach links davon. Ich sah ihn wie ein flackerndes Licht durch einen Buchenhainflitzen. Am Ende eines Felsvorsprungs versammelte er alle vier Läufe unter sich, schnellte sich ab und landete in seiner Hast in dornigem Gestrüpp. Ich rannte dem Tier hinterher, ignorierte die keckernden Eichhörnchen über mir, die Dornen, die mir die Wangen zerkratzten, und die Wurzeln unter dem Schnee, die nach meinen Knöcheln grabschten.
    Der Hirsch strampelte sich frei, machte kehrt und bewegte sich wieder in Richtung Kiefernwald. Auf halbem Weg lief er mit dem Wind auf ein offenes Flussbett zu und

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