Panic
sprang ins Wasser. Atemlos erreichte ich den Fluss und bemühte mich, meinen Puls zu beruhigen, die Bewegung des Tiers zu erahnen. Verzweifelt versuchte ich, mir ins Gedächtnis zu rufen, was mein Vater getan hätte. Aber die Erinnerung an ihn war wie eine einmal erlernte und dann vernachlässigte Sprache.
Ich kam an diesem Tag erst gegen Mittag ins Büro. Die Ingenieure, die für mich arbeiteten, warfen mir fragende Blicke zu, die ich einfach übersah. Ich setzte mich an den Computer und tippte, als wäre nichts geschehen, mehrere Codes ein, um das neue Software-Programm zu öffnen, mit dessen Entwicklung ich beauftragt war. Ein System zu finden, mit dessen Hilfe man die Umweltveränderungen an Flüssen und Meeresküsten dreidimensional darstellen kann, hätte normalerweise meine ganze Konzentration gefordert.
An diesem Tag jedoch starrte ich auf den Bildschirm, um mich darin zu spiegeln. Blutige Kratzer zogen sich über mein Gesicht und meine Unterarme. Ich schürfte mit dem Fingernagel geronnenes Blut ab und schnupperte daran. Der dumpfe metallische Geruch weckte Kindheitserinnerungen.
Ein lautes Klopfen gegen die Hüttentür. Griffs Stimme: »Beeilen Sie sich, Diana, sonst versäumen Sie das Treffen.«
»Komme gleich!«, rief ich zurück.
Ich legte den Brief meines Vaters beiseite und ging ins Bad. Im Spiegel sah ich das Gesicht einer Frau, die ich fast nicht wiedererkannte. Vielleicht hatte Kevin am Ende ja doch Recht: Hatte ich noch alle Sinne beisammen?
Sie waren alle im großen Raum des Blockhauses versammelt und tranken Cocktails, als ich kam. Zwei Männer, die ich noch nicht kannte, standen vor einem granitvertäfelten Kamin, in dem ein Feuer aus Kiefernholz prasselte. Über unseren Köpfen hing ein Lüster aus abgestoßenen Geweihstangen und tauchte den Raum in weiches Licht. Rostrot und blau gestreifte Kelim-Teppiche lagen auf dem Plankenboden. Teure Gemälde mit Jagdmotiven schmückten die Wände. Eine hölzerne Wendeltreppe führte am Ende des Raums in ein oberes Stockwerk. Über dem Treppenabsatz befand sich die auffälligste Besonderheit des Blockhauses – ein großes, kreisrundes Bleiglasfenster, das zwei mächtige kämpfende Hirsche zeigte. Kleinere Glasfenster zu beiden Seiten zeigten Hirschkühe und Böcke, die den Kampf zu beobachten schienen. Wenn man so viel Geld hat, dachte ich, kannst du tun und lassen, was du willst.
Ich stellte mich zu den Jägern aus Pennsylvania an die Bar und fragte umgänglich:
»Wie kommt’s, dass ihr drei befreundet seid?«
Phils Arm- und Brustmuskeln spannten sich unter dem blauen langärmeligen T-Shirt, das er trug. Er ließ die Muskeln spielen und knurrte: »Vinny, der Jäger.«
Als er meine Verwirrung sah, verzog Butch seinen Mick-Jagger-Mund zu einem breiten Grinsen. »Vinny, so hieß mein alter Herr«, sagte er. »Jedenfalls nannten ihn alle so in der Nachbarschaft. Er hatte ein Elektrofachgeschäft. Wir wohnten obendrüber. Dad ist regelmäßig rausgefahren aus der Stadt, ging im Herbst jedes Wochenende auf die Jagd. Seine Beute – meistens Fasane und Hasen – brachte er heim und zerlegte sie in der Garage hinterm Haus. Hat das Fleisch mit der ganzen Nachbarschaft geteilt. Vinny, der Jäger.«
»Vinny hätte dir sein letztes Hemd geschenkt«, sagte Arnie beifällig. »Wie lang ist das jetzt her, Butch, fünf Jahre?«
Butch nickte traurig. »Mai diesen Jahres.«
Phil sagte: »Mein Dad ist kurz nach Kriegsende vom Mississippi nach Philly gezogen und hat in ’ner Werkstatt gearbeitet, gleich gegenüber von Vinnys Laden. Dad war schon mit seinen Brüdern regelmäßig auf der Jagd gewesen, aber als wir Kinder kamen, hörte er damit auf. Es heißt, er hätte eines Tages einen Spaziergang gemacht, sei um die Ecke gekommen und habe Vinny gesehen, wie er diesem riesigen Bock, mit ’ner Schlachterschürze über den Verkäufersachen, die Haut abzieht. Die beiden kommen ins Gespräch und merken, dass sie gern jagen. Und von da an gingen sie gemeinsam auf die Jagd.«
»Mein Dad hatte den Eisenwarenladen um die Ecke«, sagte Arnie. »Er hat als Kind nie gejagt, aber Vinny hat ihn überredet, doch einmal mitzukommen. Hat gleich ’nen Sechsender erwischt. Von da an war er süchtig und kaufte sich in die Jagdhütte ein. Vinny und Phils Dad hatten sie in den Bergen gebaut, westlich von Wilkes-Barre, 1958 war das, glaube ich.«
»Dein Dad kam 1960 dazu, klingt also plausibel«, sagte Butch.
Phils Miene wurde hart. »Vinny musste die Hütte zuerst auf
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