Panic
hatte und den ich beim Jagen immer um den Hals trug, hängte ich auch dazu; er würde Karte und Kompass enthalten. Außerdem war er mein Talisman.
Auf den Nachttisch stellte ich ein gerahmtes Foto von Emily und Patrick, und alles andere verstaute ich auf den Regalen in der Kommode. Als Letztes öffnete ich den Gewehrkoffer und holte meine Waffe heraus, eine alte Winchester, Modell 70 , Kaliber . 257 Roberts, vor 1964 hergestellt. Andere Väter schenkten ihren Töchtern zum sechzehnten Geburtstag hübsche Kleider oder Schmuck. Ich hatte dieses Gewehr bekommen. Es war eine der wenigen greifbaren Erinnerungen an meinen Vater, eines der wenigen Dinge, die ich aus meinem Elternhaus mitnahm.
Ich setzte mich auf den Diwan und betätigte mehrmals den Bolzen. Er glitt sauber auf dem frischen Öl, mit dem ich ihn nach meiner letzten Schießübung geschmiert hatte. Ich hob das Gewehr an die Schulter, zielte auf den Hirsch an der Wand und drückte ab, um mich an das Gewicht des Abzugs zu gewöhnen.
Zufrieden stellte ich das Gewehr in den Wandständer, sah nach dem Feuer und legte ein paar Scheite nach. Dann fischte ich den Brief aus dem Parka. Die Handschrift meines Vaters war inzwischen fast unleserlich geworden, weil ich den Brief schon unzählige Male in der Hand gehabt hatte. Ich setzte mich in den Ledersessel und starrte auf das Schreiben, musste daran denken, was die Worte in mir ausgelöst hatten.
Das Begräbnis meines Vaters war gut besucht gewesen. Sämtliche Familien, um die er sich über die Jahre gekümmert hatte, waren gekommen. Die meisten konnten ihre Überraschung nicht verbergen, als ich am Flussufer aufkreuzte, um ihn auf die Begräbnisinsel im Norden von Old Town zu bringen. Dort fand er zwischen meiner Mutter und seinem geliebten Onkel Mitchell die letzte Ruhe.
Als ich in dieser Nacht nach Hause kam, war Kevin noch wach. Er hatte getrunken und zerfloss vor Selbstmitleid.
»Wirst du’s mir jetzt endlich erzählen? Nach fünfzehn Jahren?«
Ich starrte ihn an, diesen Mann, mit dem ich mein halbes Leben verbracht hatte. Und plötzlich war er mir fremd. »Wenn du mich liebst, ersparst du mir das«, flüsterte ich. »Lassen wir die Toten, wo sie hingehören. Unter der Erde.«
»Diana. Ich bin dein Mann.«
»Ich weiß«, sagte ich, ging zu ihm, umarmte ihn und schmiegte den Kopf an seine Schulter. »Mein Vater war hochgradig gestört. Meine Erinnerung an ihn ist nicht angenehm. Als ich dich traf, da glaubte ich, sie für immer vergessen zu können; du warst alles, was ich brauchte. So soll es auch bleiben. Ich will genauso weiterleben wie bisher.«
Ich fing an zu weinen. Da hörte ich ihn sagen: »Na schön. Wie bisher.« Aber seine Hände auf meinem Rücken hatten keine Kraft.
Erst eine Woche später brachte ich es über mich, den Brief zu lesen. Anschließend musste ich mehrere Stunden lang in der freien Natur herumlaufen. Ich verheimlichte den Brief vor Kevin, legte ihn stattdessen in die Schublade zu meinen BH s, stopfte ihn ganz nach hinten. Da sollte er bleiben; wie ein Schal, der zu schmuddelig war, um noch getragen zu werden, aber doch zu kostbar, um im Müll zu verschwinden.
Ein volles Jahr konnte ich vor mir selbst, meiner Familie und Außenstehenden so tun, als hätte ich den Tod meines Vaters verwunden. Kevin hatte ein paar Mal versucht, das Thema anzusprechen, aber ich hatte ihn jedes Mal abgewürgt. Der leere Blick, der dann in seine Augen trat, sagte mir, dass sich eine Kluft zwischen uns aufgetan hatte. Ich konnte es nicht ändern.
Dann, kurz vor Beginn der Jagdsaison im darauf folgenden November, fing ich an, nachts aufzuwachen, mit Übelkeit und Schweißausbrüchen.
Die Schlaflosigkeit erwies sich als Symptom einer depressiven Verstimmung. Ich ging nur noch selten aus dem Haus, während mein Mann seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen weiterhin in unvermindertem Tempo nachkam, wie es seiner Rolle als Leiter der Marketingabteilung eines angesehenen Bostoner Verlagshauses entsprach: gegensätzliche Gewohnheiten, die uns einander langsam, aber sicher entfremdeten.
Sogar meinen Kindern fiel die Veränderung auf. Emily zupfte mich des Öfteren am Ärmel, um auf sich aufmerksam zu machen, während ich durchs Schlafzimmerfenster das Treiben auf der Marlborough Street beobachtete. Es kostete mich meine ganze Kraft, wenn ich samstags mit ihnen nach draußen ging. Vor allem Besuche im Zoo lösten Angstattacken und Depressionen in mir aus.
»Ich wüsste jemanden, der dir vielleicht
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