Panic
wonach ich gesucht hatte. Die Spur grub sich tief in den Schnee. Der Gang war ausholend, die gerundeten Schalen leicht ausgestellt. In einer Schneewehe entdeckte ich eine Furche vom Brustknochen des Hirsches, dazu feine Haare. Und dann einen Baum, fünfzehn Zentimeter im Durchmesser, entrindet von Geweihsprossen. Geruch und Konsistenz des ausgetretenen Harzes sagten mir, dass der Bock hier vor knapp einer Stunde vorbeigekommen war.
Ich nahm die Waffe in die rechte Hand und erinnerte mich an Mitchells Ratschläge.
»Wenn du einer Fährte folgst, sieh zu, dass du dich gegen den Wind bewegst«, sagte er. »Behalt mit einem Auge die Spur, mit dem anderen das Gelände im Blick.«
Fünfzig Jahre lang galt mein Großonkel als einer der besten Fährtenleser in den Wäldern des nördlichen Maine. Es hieß, er könne anhand ihrer Trittsiegel die Gedanken der Tiere lesen und wüsste schon nach vierhundert Metern, wie sich ein Hirsch weiter vorn verhalten würde. Es stimmte. Ich hatte es selbst erlebt. Mein Vater hatte dieselben Fähigkeiten.
Ich hatte die Fährte etwa einen Kilometer weit verfolgt, als der Hirsch auf eine Anhöhe geklettert und auf einen Rivalen gestoßen war. Der Schnee war aufgewühlt, wo die Hufe der Tiere Halt suchend nach hinten abgeglitten waren. Büschel grauschwarzer Haare lagen im zertrampelten Schnee. Kleine Blutspritzer bezeugten, dass Horn auf Fleisch gestoßen war.
Zwei Paar Spuren verließen den Kampfplatz. Die eine humpelte in östlicher Richtung auf das lindernde Flusswasser zu. Die andere, der ich nachgespürt war, schwenkte wieder nach Norden, wo sie schon bald eine weitere Fährte kreuzte, die einer Kuh. Rosafarbener Urin. Sie war paarungsbereit.
Ich ging schneller. Nach einigen hundert Metern fand ich die Stelle, wo sie sich gepaart hatten, bevor sich ihre Wege wieder trennten. Die Spuren des Bocks waren frischer, er war mir etwa eine halbe Stunde voraus. Ich zog die Jacke aus und schnürte sie auf den Rucksack. Den Kompass steckte ich mir an die rote Fleeceweste. Fast mechanisch brach ich einen Fichtenzweig ab und schob ihn mir unters Hemd, direkt auf die Haut. Das hatte ich von meinem Vater gelernt; Penobscot-Jäger glaubten, der Fichtenzweig verhindere Seitenstechen. Ich rannte los, und plötzlich war mir, als liefe mein Vater an meiner Seite.
Von Mitchell hatte ich das Spurenlesen gelernt, von meinem Vater das Rennen. Er hatte über hundert Kilo gewogen, trotzdem glitt er völlig lautlos durch den Wald, als würden seine Füße den Boden nicht berühren. Ich spürte ihn neben mir, konnte hören, wie er mich anwies, während des Laufens die Umgebung im Auge zu behalten, auf die Windrichtung zu achten und kleine Schlitze im Schnee zu vermeiden, weil sie auf heruntergefallene Zweige verwiesen.
Nach einem knappen Kilometer bog die Spur scharf nach Osten. Ich blieb stehen, warf einen Blick auf die Karte und überlegte, dass der Hirsch in wenigen Minuten den Zusammenfluss von Sticks und Dream erreichen würde. Er würde am reißenden Wasser stehen und keinen Übergang finden. Er war also ganz in der Nähe. Und in der Falle.
Der offene Hochwald wurde von dichtem Unterholz abgelöst, das den Fuß eines felsigen Hügels säumte, der über zehn Meter hoch und stellenweise überhängend war. Ich dachte mir die Zeiger einer Uhr, bis ich eins mit ihnen wurde. Während meine Bewegungen so langsam wurden, dass sie kaum noch wahrnehmbar waren, suchte ich zwischen den Bäumen nach einer senkrechten Linie, einem weißen Fleck, einer runden schwarzen Nase, irgendetwas, das mir verraten könnte, wo der Hirsch sich versteckte. Behutsam tastete ich mich um den Wipfel einer umgestürzten Tanne. Da flatterte FRRRRR! ein Waldhuhn zwischen den abgestorbenen Zweigen hervor, und ich wich jäh zurück. Mit weichen Knien setzte ich mich auf den Baumstamm.
Sekundenlang schloss ich die Augen, öffnete sie wieder und folgte dann noch einige Meter der Fährte. Da verließ mich der Mut. Er hatte die Richtung geändert!
Bis jetzt hatte der Hirsch im Laufen den Wind geprüft, damit seine Nase ihn vor eventuellen Gefahren von vorn warnte. Doch hier war er stehen geblieben und hatte seine Aufmerksamkeit nach hinten gerichtet. Dann war er in einem mächtigen Satz den Felshang hinauf gesprungen und nach Süden gelaufen.
Ich rannte an meiner Spur entlang zurück, ungeachtet der Zweige, die nach mir griffen, und nutzte jeden Ausblick, um den Felsen abzusuchen. Ich durchquerte gerade eine kleine Lichtung, als oben
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