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Panic

Panic

Titel: Panic Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark T. Sullivan
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erinnere ich mich an die stillen Morgen, wenn wir einfach nur gemeinsam im Wasser standen. Sogar jetzt noch, fast zwei Jahrzehnte nach ihrem Tod, befällt mich beim Geruch von Bächen oder beim Anblick einer älteren Frau, deren Wangen im Sonnenlicht erröten, das verzweifelte Verlangen, mich an einen Halsansatz zu schmiegen, der nach wilden Hyazinthen duftet.
    Katherine und mein Vater waren wie füreinander geschaffen. Trotzdem ließ sich ihr gemeinsames Leben zunächst schwierig an. Mein Vater war ein Halbblut, und damals waren Vorurteile gegen Indianer noch weit verbreitet in Maine. Doch mein Vater schaffte es, beide Welten miteinander zu verbinden: als Chirurg in einer Klinik in Bangor und als Leiter eines Krankenhauses auf Indian Island, der Penobscot-Reservation nördlich von Old Town. Viele Jahre redete Katherines Familie kein Wort mit ihr. Doch sie blieb hart, und am Ende erkannten ihre Eltern, wie gut mein Vater zu ihr passte. Es ist komisch: Beide hatten ein ausgefülltes Berufsleben, aber den Lebenssinn fanden sie aneinander. Trotz allem, was passiert ist, weiß ich, dass sie einander und auch mich sehr lieb hatten.
    Vielleicht verbarg sich hier auch der Ursprung unseres Konflikts. Als Heranwachsende erkannte ich noch nicht, dass sie anders waren als andere Eltern. Doch das waren sie. Beide hatten schon früh den katholischen Glauben abgelegt, um sich ihre eigene Religion zu schaffen. Diese basierte zum Teil auf dem, was Mitchell von der alten Lebensweise seiner Micmac- und Penobscot-Vorfahren an sie weitergab, zum Teil auf Ritualen und Gebeten, die Wälder und Flüsse ihnen eingaben. Im Wesentlichen bestand der moralische Unterbau ihrer Tage aus dem Bemühen, im Einklang mit den Gesetzen der Natur zu leben: Nimm nur, was du brauchst und wenn du es brauchst; halte dich an die Jahreszeiten und ihre Früchte; versuche, so einfach wie möglich zu leben, fast wie ein Jäger und Sammler. Natürlich war Letzteres in Anbetracht ihrer Berufe ein wenig utopisch, eher ein Ideal, nach dem sie strebten. Die Jagd nach Vögeln und Wild, das Fliegenfischen, die Pflege des Gartens, das Sammeln von Beeren und Nüssen waren Rituale, die sie zelebrierten. Als Kind verehrte ich ihre Sicht der Welt. Ich sollte erst noch erfahren, wie hart sie sein konnte.
     
    Ich musste eingenickt sein, denn auf meiner Uhr war es halb zwölf, als ich den ersten Schuss hörte. Dem Knall folgte ein brausendes Echo, das über mich hinweg und zum Fluss hinunterfegte. Und dann noch ein Schuss, vielleicht zwölf, fünfzehn Kilometer entfernt. Und ein dritter. Alle aus demselben Gewehr.
    Im schwächer werdenden Echo des letzten Knalls stellten sich mir die Nackenhaare auf. Jemand beobachtete mich. Jetzt war ich mir ganz sicher. Ich zwang mich zur Ruhe, dachte mir ein Raster über der Landschaft um mich herum und ging einen Sektor nach dem anderen durch. Ein Rabe hüpfte über den Boden. Ein Streifenhörnchen keckerte. Hatten sie dieses Gefühl in mir ausgelöst? Wohl kaum.
    Ich verrenkte mir fast den Hals, während ich Gebilde und Schatten im Wald hinter mir prüfte. Weiter oben am Hang äste eine Hirschkuh. Ihr Wedel tickte hin und her, und ihr Kopf war nach unten gebogen, wies in die andere Richtung; sie fühlte sich sicher. Fast zwanzig Minuten lang hielt ich Ausschau, bis meine Beklemmung ins Unermessliche wuchs, mein Herz anfing zu stolpern und ein metallischer Geschmack die Kehle heraufkroch. Und dann, genauso plötzlich wie der Schuss, verschwand die Bedrohung wieder. Innerlich bebend, schmeckte ich den abgestandenen Speichel, den ein Adrenalinstoß hinterlässt.
    In diesem Moment nahm ich im Augenwinkel eine geschmeidige Bewegung wahr. Oberhalb der Hirschkuh schlich ein Kojote über die Felsen. Sie witterte ihn, rollte erschreckt mit den Augen, sprang davon. Der Kojote setzte ihr nach, mit offenem Maul, speichelnd. Ich überlegte, ob ich ihn abschießen sollte, doch dann senkte ich das Gewehr. Der Kojote hatte genauso viel Recht, hier zu jagen, wie ich. Vielleicht noch mehr. Man hatte mich gelehrt, die natürliche Ordnung nicht unnötig zu stören.
    Als Kojote und Hirsch verschwunden waren, aß ich den Lunch – einen Apfel und ein Sandwich –, den Sheila und Theresa mir eingepackt hatten, und trank einen Schluck aus der Feldflasche. Dann ließ ich die Hosen herunter, ging in die Hocke und pinkelte. Erleichtert sammelte ich meine Sachen zusammen und stieg hinunter zum Fluss.
    Um kurz vor zwei, auf einer Niederung am Flussufer, fand ich,

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