Panic
hatte sich erwärmt. Der Schnee war nass. Ich vermied den Lichtschein der Gaslaternen zu beiden Seiten der Veranda und steuerte auf den Lagerschuppen neben dem Kühlhaus zu, wo Pattersons und Grovers Leichen lagen.
Der rostige Riegel an der Tür zur Scheune kreischte vernehmlich, als ich daran zog. Ich wartete fünf Minuten, nachdem der Lärm die Nacht zerrissen hatte. Keine Bewegung im Haus. Keine Geräusche, nur das Flüstern der Flocken. Ich ging hinein und knipste die Taschenlampe an. Brusthohe Watstiefel aus Neopren hingen an einem Nagel über den Schneemobilen. Ich nahm sie herunter und band sie quer über meinen Rucksack. Ich würde sie heute noch brauchen.
Der Rucksack lag schwer auf meinen Schultern mit dem zusätzlichen Gewicht, doch ich schüttelte das Unbehagen ab und ging hinaus in die stürmische Nacht. Ich schloss die Tür und schob, wieder mit Getöse, den Riegel vor. Da fuhr mir ein Lichtstrahl in die Augen. Ich hob die Hand, um das grelle Licht zu mildern. »Wer ist da?«
Das Licht senkte sich auf meine Hüfte. Lenore stand auf der untersten Stufe der hinteren Veranda, eine Decke um die Schultern gewickelt. Sie trug noch immer die Jagdkleidung vom Vortag. Ihre Wangen waren eingefallen, sodass die Knochen hervortraten.
»Ich kann nicht schlafen, hab Sie am Fenster vorbeischleichen sehen. Wohin gehen Sie?«
»Zum Lager des Killers.«
Lenore kam ein paar Schritte auf mich zu. Ihre Miene war grimmig, ihre Gesichtsfarbe unnatürlich blass. »Earl hat so viel Zeug geschluckt, dass er völlig weggetreten ist. Er stöhnt und schwitzt.«
Sie hielt inne, und ein klitzekleines Lächeln huschte ihr über die zitternden Lippen. »Er ruft nach mir. Nicht nach den anderen. Nach mir, Lenore. Aber er hört mich nicht, und ich kann ihm nicht helfen.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich war schon weit weg, tief im Wald meiner Gedanken. »Bitte sagen Sie den anderen nicht, wohin ich gegangen bin.«
»Ich weiß ja nicht, wohin Sie gehen«, erwiderte sie wahrheitsgemäß. »Aber wenn Sie dieses Lager finden und die Typen schlafen, dann denken Sie an meinen Mann, und … schneiden Sie ihnen die Kehlen durch.«
Manche Frauen glauben, sie hätten so viel gelitten, dass sie sich an das Leiden gewöhnt haben. Lenore schien eine von ihnen zu sein. Wird man älter, erkennt man jedoch, dass nach heftigen Schmerzanfällen auch Erholungsphasen nötig sind. Lenore verstand nicht, dass die verschobene Wahrnehmung, die mit Schmerzen einhergeht, allmählich von ihr Besitz ergriffen hatte. Das musste sie selbst herausfinden.
Mit gesenktem Kopf ging ich dem Sturm entgegen, vorbei an den undeutlichen Silhouetten der erlegten Hirsche am Balken. Während sie im Wind schaukelten, stießen die größten Geweihe aneinander – dieses Geräusch hört man auch zur Brunftzeit im Wald, wenn die Böcke die alljährlichen Kampfrituale beginnen. Das Klacken machte mich schaudern, und ich beeilte mich, außer Hörweite zu kommen.
Ich blieb auf dem Holzfällerweg, bis ihn die Ost-West-Verbindung kreuzte. Ich hoffte auf einen Vorsprung von mindestens drei Stunden, bevor meine Abwesenheit entdeckt würde. Sie würden meine Spuren nicht finden, weil ich es dem Killer gleichtun und das Wasser nutzen würde, um mein Ziel zu erreichen. Ich würde keine Spuren hinterlassen.
Die Dunkelheit hüllte mich ein. Es ist ein eigenartiges Gefühl, wenn man sich nur anhand eines dünnen Lichtstrahls orientieren kann. Die Nacht bedrängt einen, scheint zu pulsieren, droht und beschwichtigt, verwandelt den Schnee unter einem in wogende, gesprenkelte Sahne, wie Habichtschwingen in der Dämmerung. Ich versuchte unter dem Druck der Dunkelheit einen klaren Kopf zu bewahren, was mir seit meiner Ankunft hier ganz gut gelungen war. Jahrelang hatte ich neben mir gestanden, hatte mich abgefunden mit dem, was aus mir geworden war, indem ich Little Crow beobachtete, als wäre sie von mir abgespalten, ein Geschöpf in einem Käfig, das man studieren und mitunter bemitleiden konnte. Doch in den vergangenen paar Tagen, insbesondere in den vergangenen zwölf Stunden, war ich mit Little Crow verschmolzen, nicht etwa, um mich in ihr zu verkriechen, sondern um sie zu erkunden, um nach dem Mädchen zu suchen, das ich vor dem Tod meiner Mutter gewesen war.
Nachdem ich sie in ihrem Schlafzimmer getröstet hatte, erlebte Katherine eine stabile Phase, die Monate anhielt. Doch zu Beginn des darauf folgenden Frühlings war es nicht zu übersehen, dass sie allmählich in
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