Panic
»Vorausgesetzt, er hätte den Schock überwunden.«
»Mich kann man nicht so leicht schockieren«, sagte Nelson. »Ich würde sagen, wir treiben ihn noch ein bisschen in die Enge.«
Die Spuren führten uns bis auf den Gipfel der östlichen Kuppel. Er war bis zur Felskante getrabt und dann auf einem schmalen Wildpfad abgestiegen, was uns zwang, mit dem Gesicht zur Wand und unter Zuhilfenahme der Hände nach unten zu klettern. Seiner Spur nach zu schließen, hatte er beim Abstieg kaum die Hände benutzt, was in mir die Frage aufwarf, ob er mehr Tier war als Mensch.
Ich war schweißgebadet, als ich den Boden erreichte. Es war kurz vor halb drei. Wir waren schon fast drei Stunden hinter ihm her. »Cantrell sagte …«
»Ich weiß, was er sagte«, sagte Nelson gereizt. »Aber wir lassen uns noch eine halbe Stunde Zeit. Bis jetzt ist er kreuz und quer gelaufen. Früher oder später muss er etwas tun, woraus wir seine Absicht erraten können.«
Wir stiegen weiter bergab, der gespenstische blaue Himmel vom Morgen war nur noch Erinnerung. Wolken verdeckten ihn, die ersten Flocken fielen. Der vierte Schneesturm in dieser Woche.
»Wir verlieren ihn, wenn das so weitergeht«, sagte ich.
»Nicht, wenn’s nach mir geht!«, knurrte Nelson.
Er legte ein Tempo an den Tag, dass ich Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. Hügelabwärts wurde auch die Gangart des Killers schneller. Ich stellte mir vor, wie seine langen Sätze den Pulverschnee hinter ihm aufwirbelten wie aufschäumende Gischt. Seine Augäpfel waren gelblich, die Pupillen diamantförmig. Mit zunehmender Erschöpfung musste ich mich fragen: Hing ihm je die Zunge heraus? Knurrte ihm je der Magen? Wurde ihm je die Kehle trocken? Oder war er immun gegen derlei menschliche Regungen?
»Der Kerl ist ein Vieh«, rief Nelson, als er unten ankam und wir beide vornübergebeugt nach Luft schnappten. »Er wusste, dass wir den Abhang hinunterlaufen würden!«
»Er bewegt sich nicht wie ein Siebzigjähriger«, sagte ich.
»Wer sagt denn, dass Metcalfe siebzig war?«, fragte Nelson überrascht. »James war Ende fünfzig und knallhart.«
»Denken Sie, er ist es?«, fragte ich.
»Ich weiß es nicht. James war zwar ein komischer Kauz, aber so was hätte ich ihm nicht zugetraut. Andererseits ist er verdammt eigenbrötlerisch geworden, nachdem Grovers Mutter gestorben war. Sie war seine Geliebte gewesen, schon seit ewigen Zeiten. Der Alte hatte sie lieber als seine richtige Frau, so viel steht fest. Nancy Metcalfe war eine Hexe. Und die Kinder waren auch nicht viel besser, vor allem der Junge nicht, dieser Ronny.«
»Grover hat mir erzählt, dass Ronny gemein zu ihm war.«
»Gemein ist gar kein Ausdruck. Ronny war ein sadistischer kleiner Scheißkerl. Sie wissen schon, einer, der Spaß daran hat, Frösche mit Knallkörpern zu füttern. Als beide noch Kinder waren, hat Ronny Grovers zahmen Seetaucher angeblich mit einem Stein erschlagen, und das vor Grovers Augen.«
»Geht Ronny auf die Jagd?«
Nelson überlegte kurz. »Ja, schon, aber er ist nicht so gut wie sein Vater, bei weitem nicht.«
»Aber möglich wär’s. Dass Ronny der Killer ist, meine ich.«
»Im Augenblick wär alles möglich, oder?«
Ich überlegte, versuchte mir vorzustellen, wodurch sich James Metcalfe, ein Mann, der um seine verlorene Liebe trauerte, in einen Irren verwandelt haben könnte. Oder falls es Ronny war, wie der Sohn eines bekannten Jägers zum Mörder werden konnte. Doch ich fand keine zufrieden stellende Antwort.
Wir bahnten uns einen Weg ins Unterholz. Dornen verkrallten sich in unserer Kleidung. So blockiert, gaben wir gute Zielscheiben ab, doch ich hatte keine Angst mehr, denn mittlerweile wünschte ich mir den Kampf herbei, war reif dafür.
Ich war vor Nelson am Flussufer, kroch auf allen vieren auf die Böschung hinaus, das Gewehr entsichert, den Zeigefinger am Abzug. Der Killer hatte sich ins tosende Wasser gerettet, war aber am anderen Ufer nicht herausgekommen. Ich suchte seine Spur im Schlick, inspizierte die überhängenden Büsche, vielleicht fände ich ja Hinweise bezüglich der Richtung, die er eingeschlagen hatte. Doch da war nichts als der Firnis von neuem auf altem Schnee und darunter totes Geäst und darunter die gischtende Wut des Wassers.
Ich setzte mich hin, Beine über Kreuz, lehnte den Kopf gegen die Flinte und weinte; es war meine Schuld, dass wir heute hier draußen waren, meine Schuld, dass ein Pfeil im Rücken eines Mannes steckte. Und im entscheidenden Moment
Weitere Kostenlose Bücher