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Panic

Panic

Titel: Panic Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark T. Sullivan
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einen Zustand schlitterte, in dem klare und verwirrte Momente einander abwechselten. Sie stand oft im Arbeitszimmer und strich mit den Fingern über gerahmte Familienfotos. Dann wieder nannte sie Bert, den Postboten, »Charley« oder wollte wissen, warum Mitchell, der seit fast sechs Jahren tot war, nicht zum Abendessen kam.
    Und am ersten Tag der Forellensaison verirrte sie sich. Ich war an diesem Morgen in südlicher Richtung am Fluss entlang spazieren gegangen, während sie sich zu einer ihrer Lieblingsstellen aufmachte. Wir hatten vereinbart, uns um zehn zu treffen und gemeinsam zu einem anderen Flussabschnitt zu gehen. Zehn Uhr kam und ging. Ich ging flussaufwärts zu ihrer Stelle. In einem der letzten Schneefelder am Ufer entdeckte ich ihre Bambusrute und ihren Weidenkorb. Das Wasser hier war tief und reißend. Ich rannte am Ufer entlang, auf der Suche nach ihren Spuren. Ich fand keine.
    »Katherine!«, schrie ich. »Mama!«
    Kein Laut war zu hören, nur das Sprudeln des Wassers. Ich war sechzehn Jahre alt. In panischer Angst sprang ich in den Fluss und watete auf die andere Seite. Ich wurde frenetisch wie ein Jagdhund, der die Fährte verloren hat. Eine halbe Stunde später fand ich Katherine auf Knien im flachen Wasser, wo sie Steine umdrehte, um nach Nymphen zu suchen. Als sie mich hörte, blickte sie auf und lächelte.
    »Schatz, ich wusste gar nicht, dass du heute angeln wolltest.«
    »Heute fängt doch die Saison an, Katherine«, sagte ich und kniete mich neben sie. »Ich begleite dich immer am Eröffnungstag.«
    »Eröffnungstag?«, sagte sie. »Na so was! Ich hab das Gefühl, als hätte ich erst gestern hier geangelt.«
    Ich strich ihr übers Haar. Ihr Geruch und der des Flusses vermischten sich. »Lass uns nach Hause gehen«, sagte ich.
    Es fiel meinem Vater zu, es ihr zu sagen. Anfang Juni ging er mit ihr zum Pavillon hinunter. Ich beobachtete die beiden vom Fenster aus. Sie wehrte sich zunächst, gestikulierte heftig, warf herrisch den Kopf zurück, wie sie es vor Lobbyisten zu tun pflegte, die sie besuchten. Doch mein Vater hatte Erfahrung mit dem Überbringen schlechter Neuigkeiten. Er drückte sie an sich. Ich sah, wie sie zusammensackte, ihre Knie gaben nach, und sie fiel in seine Arme. Ich lief ins Badezimmer und musste mich übergeben.
    Zwei Wochen später, als der Sommer begann, verzichtete Katherine auf ihren Sitz im Senat. Sie tat es ab, doch man sah es an ihrer Haltung, dass der Verzicht auf ihr Amt die Koordinaten ihres Lebens verschoben hatte.
    In dieser Saison angelte sie fast täglich. Jeden Morgen wachte ich auf, wenn ich ihre Angelschnur durch die Luft pfeifen hörte. Sie schien fest davon überzeugt, dass die Konzentration auf lieb gewonnene Rituale, die sie seit der Kindheit begleitet hatten, sie davor bewahren konnte, den Halt zu verlieren und weiter abzugleiten.
    Und überraschenderweise war dem auch fast ein Jahr lang so. Sobald Katherine am Wasser war, war sie klar wie ein Fluss im Frühling. Mitunter, wenn es ihr gut ging, sprach sie davon, Bücher zu schreiben oder an der Orono Universität Kurse zu geben. Doch im Herbst, als ich siebzehn war, wetteiferten die dunklen und die klaren Tage miteinander.
    Und der Tag, an dem mein Vater und ich im November zur Jagdhütte aufbrachen, gehörte zu den schlechten. Eine Freundin hatte angeboten, bei ihr zu bleiben. Ich wollte ihr einen Abschiedskuss geben, und sie klammerte sich an meine Hand, als wäre es das letzte Mal.
    Während ich mich durch die Dunkelheit kämpfte und die Blockhütte immer weiter hinter mir ließ, wurde mir klar, dass sie meine Hand tatsächlich nie mehr so gehalten hatte. Es war unser erster Abschied.
    Komisch, ich konnte ihre Finger immer noch spüren. Ich konnte spüren, wie sie mir über die Hand streichelten.
    Ein Blick auf den Kompass sagte mir, dass ich geradewegs nach Norden ging, auf den Felsen zu, den ich tags zuvor mit Nelson bestiegen hatte. Eine halbe Stunde später, kurz vor Morgengrauen, hatte ich das Flussufer und die Stelle erreicht, wo wir die Spur des Killers verloren hatten. Ich legte mich auf den Rücken, zog die Stiefel aus und schlüpfte in die Watstiefel. Ich verschnürte den Rucksack und watete in den Fluss. Das Eis am Rand war zu dünn, um mich zu tragen, und ich bahnte mir den Weg in die Strömung. Das Wasser umspülte die Stiefel, bis meine Füße taub waren vor Kälte, und das wütende Tosen um mich herum verstärkte in mir den Eindruck, ich sei von der übrigen Welt

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