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Panic

Panic

Titel: Panic Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark T. Sullivan
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Ausrüstung vor den Tunnel.
    »Ich habe Durst«, krächzte ich.
    Wortlos nahm er die Kürbisflasche neben der Feuerstelle und hielt sie mir an die Lippen. Dabei vermied er es, mir in die Augen zu sehen.
    Nachdem ich getrunken hatte, fragte ich: »Gehen Sie jetzt wieder?«
    »Das Ende ist nah«, verkündete er und stand auf. »Ich muss die Zeremonie zu Ende bringen, bevor die Dunkelheit mich gänzlich umfängt, so wie deine Mutter.«
    Ich stutzte kurz, weil mir klar wurde, dass wir in der Vision irgendwie ineinander geraten waren. Wir hatten uns ausgetauscht, jetzt ahnte er, welche Wolken mein Herz verdunkelten, so wie ich die seinen kannte.
    »Warum gerade hier?«, fragte ich, weil mir klar geworden war, dass er auch mich töten musste, wenn er die Zeremonie zu Ende führen wollte. »Sie haben mir noch immer nicht gesagt, warum Sie ausgerechnet hierher kommen mussten.«
    Er starrte mich ausdruckslos an. »Im August, als
Tao Jreeku
, Vater Sonne, am kräftigsten war, kam in einer Vision ein Bote zu mir, ein Bote mit Haaren wie Feuer. Der Mörder, sagte er mir, bereue seine Verfehlung nicht. Er sei tief in die Wälder des Nordens gereist, wo keiner von seiner bösen Tat wisse, und habe vor, wieder zu jagen. Ich befragte Tatewari und Kauyumari, ob das wahr sei, was der Bote gesagt habe. Sie bestätigten es mir und sagten, dies sei auch der Grund, warum die Jagd überall so erbärmlich sei. Der Wolf kam später zu mir. Ich müsse das Gleichgewicht wiederherstellen, sagte der Wolf, müsse Rache üben. Also werde ich ihren Mörder töten und alle, die ihm folgen. Nur so kann die Jagd wieder rein werden.«
    »Hier ist aber außer Ihnen kein Mörder«, warf ich ein.
    Er schnaubte. »Du bist blind. Er ist längst hier. Ich wittere ihn schon seit langem und spüre seine Angst wachsen, während ich seine Brüder jage. Er weiß, dass ich Gleiches mit Gleichem vergelten werde.«
    »Und wir Übrigen?«
    »Ihr gehört zu ihm, dadurch besudelt auch ihr die Jagd. Ich werde euch alle opfern.«
    Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab.
    »Wer hat Ihnen das angetan?«, rief ich. »Wer ist die Frau auf dem Foto?!«
    »Still!«, bellte er und funkelte mich wütend an. »Er soll leiden! Ihr alle sollt leiden!«
    Ich erschrak, wagte kein Wort mehr zu sagen, aus Angst, er könnte seine Wut an mir auslassen. Keuchend und hustend und sich die Haare raufend, widmete er sich wieder dem Kreistanz, der ihn schon einmal beruhigt hatte. Als er sich wieder gefasst hatte, packte er seine Ausrüstung in ein paar Hirschhäute. Er schürte das Feuer, steckte Streifen von Hirschfleisch auf Eisenspieße und hielt sie in die Flammen. Als es gar war, rollte er das Fleisch in eine Tortilla, die er auf einem Stein erhitzt hatte, und fütterte mich. Er überprüfte meine Fesseln, schlüpfte in eine brusthohe Wathose und entschwand durch den Tunnel in die Nacht. In den folgenden zwei Stunden kam er mehrmals zurück, bis er sämtliche Bündel weggeschafft hatte. In seinem Bart hingen Eisklumpen. Die Haut auf seinem Gesicht und seinen Händen war schon ganz blau vor Kälte, aber er schien es nicht zu spüren.
    Sobald er mir den Rücken kehrte, versuchte ich, die Handfesseln abzustreifen, doch die Knoten gaben kein Jota nach. Ich war verzweifelt, vielleicht würde ich wegen dieses Psychopathen meine Kinder nie mehr wiedersehen. Wie gern hätte ich mich in meiner Not an einen Gott gewandt, nur an welchen? Kevin und ich hatten als Agnostiker gelebt, und so blieben mir nur die spirituellen Lehren meiner Kindheit.
    Ich dachte an Mitchells Geschichten von Menschen, die tief im Wald der Großen Kraft begegnet waren, und wusste nichts damit anzufangen. Ich war ohne geistigen Beistand.
    In meiner Verzweiflung griff ich nach einer meiner positivsten Erinnerungen: Es war Anfang Mai gewesen, ich war sieben, und wir veranstalteten an einem Biberteich tief im Wald ein Picknick. Biberteiche sind Orte der Kraft, sagte Mitchell. Er schöpfte mit einer Kelle aus Birkenrinde Wasser aus dem Teich und blickte auf sein Spiegelbild. Meine Mutter hatte mich im Arm gehalten und mit meinem Vater ein Lied zu Ehren der Welt gesungen, die aus dem Winterschlaf erwacht war.
    Ich erinnerte mich an einige Worte, schloss die Augen und sang. Und je mehr ich sang, desto intensiver roch ich das saftige frische Gras und hörte die Wasserpfeifer, die am Teichrand quakten; meine Kinder würden nach meinem Tod einen neuen Frühling erleben. Die Vorstellung gab mir Trost.
    Als das Lied zu Ende war,

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