Panik: Thriller (German Edition)
wollte sich sein Blick direkt in Murdochs Kopf bohren.
Der Tote hob die Hände, und eine weitere Druckwelle aus Schatten breitete sich auf der Autobahn aus. Murdoch beobachtete, wie ein Motorrad vom Boden gehoben und in Stücke gerissen wurde. Der Fahrer verwandelte sich in eine glitzernde blutrote Wolke, die auf das gähnende Maul zuschwebte. Eine der Limousinen vor ihm wurde wie ein Kinderspielzeug in Einzelteile zerlegt, ihre Passagiere lösten sich auf und verschwanden im Abgrund. Ein Sturm aus Metall wirbelte wie ein Tornado um die lebende Leiche. Wieder zuckten blendende schwarze Blitze durch den Malstrom.
Dann donnerte es noch einmal. Murdoch sah sich um. Zwei Mädchen standen Hand in Hand im Funkenregen auf der Straße und starrten die Monstrosität vor ihnen an.
Tut mir leid, sagte eines der Mädchen mit einer Stimme, die direkt in sein Ohr zu flüstern schien. Ich kann dich nicht retten.
Er streckte die Hand nach ihnen aus. Seine Finger drückten gegen die Scheibe.
Das muss dir nicht leidtun, dachte er. Es wird euch auch verschlingen. Es wird uns alle verschlingen.
» Alice«, sagte er und dachte an seine Frau und seinen Sohn. Er würde sie nie wiedersehen– nicht in diesem Leben und auch nicht im nächsten.
Die Leiche vollführte eine Geste mit den Fingern, und ein weiterer Teil der Welt verschwand unter einem finsteren Leichentuch. Murdoch spürte, wie das Fahrzeug den Boden verließ. Der Schatten erreichte ihn, und es war, als ob alle, die er kannte und liebte, gestorben wären. Ihn überkam eine so tiefe, unfassbare Trauer, dass es ihn buchstäblich zu zerreißen drohte. Er hielt die Hände vor das Gesicht und beobachtete, wie sich seine Finger in sandkorngroße Partikel auflösten. Sie schwebten auf den toten Mann zu. Seine Hände verschwanden, dann seine Arme. Schließlich schwanden ihm die Sinne, als sich sein Gehirn in Staub verwandelte. Er fühlte keinen Schmerz, was alles fast noch schlimmer machte– wenigstens der Schmerz wäre eine letzte Erinnerung daran gewesen, dass er überhaupt existiert hatte.
Doch da war nur die riesige, aufgewühlte, endlose, stumme Dunkelheit.
Und dann gar nichts mehr.
Die Wut
Fursville, 19 : 31 Uhr
Brick spürte es. Von der Arbeit unter der unbarmherzigen Sonne war er schweißgebadet. Jeder Muskel schmerzte. Er legte die Schaufel nieder und streckte sich. Es war, als ob die Nacht ganz plötzlich und ohne Vorwarnung hereingebrochen wäre, obwohl die Sonne nach wie vor heiß auf seinen Rücken brannte. Lisa lag neben ihm auf einer lichtdurchfluteten Grasfläche. Er hatte sie mit einem Tischtuch zugedeckt und sie hierher getragen. Sie schien hundertmal schwerer zu sein als noch zu Lebzeiten. Noch hatte er nicht gewagt, ihr ins Gesicht zu sehen. Wenn er das tat, würde er mit Sicherheit wissen, dass sie nicht mehr zurückkam. Er blinzelte, und langsam kehrte die Helligkeit zurück. Doch die Kälte blieb und verursachte ihm eine Gänsehaut auf den Armen. Er hob die Schaufel wieder auf, stieg in ihr Grab und arbeitete weiter.
Cal und Daisy spürten es. Sie beobachteten Brick aus der Entfernung. Sie hielt sich an seinem Arm fest, wie sie sich früher an den Arm ihrer Mutter geklammert hatte. Sie sahen sich an, als sie gleichzeitig diese plötzliche, niederschmetternde Traurigkeit überkam, die Gewissheit, dass irgendetwas auf der Welt gewaltig schiefgelaufen war. Wie Tiere, die ein Erdbeben registrieren, dachte Cal. Die wussten auch nicht, wovor sie Angst hatten, sondern nur, dass sie fliehen mussten. Es ist die Wut, begriff er. Alles ändert sich. Daisy drückte sich noch enger an ihn. Es wird schlimmer, Cal. Es wird noch viel schlimmer. Er hielt sie ganz fest, so fest wie ein Ertrinkender ein Floß. Er wollte sie nie wieder loslassen.
Jade spürte es. Sie saß im Flur des Pavillons nur wenige Meter neben dem toten Mann. Ein seltsamer, kratzender Druck erfüllte den Korridor und drang in ihren Kopf, verstopfte ihre Ohren wie damals, als sie im Schwimmbad zu tief getaucht war. Ein ungebetener Gast in ihrem Verstand, der selbst die Trauer vergeblich und zwecklos machte. Das war so schrecklich, dass sie den Mund öffnete, um zu schreien, doch sie brachte keinen Laut heraus. Sie saß stumm kreischend da und wusste, dass nichts mehr so sein würde wie früher, dass alles Gute verschwunden war.
Chris spürte es. Er stand am Strand und warf Steine ins Meer. Als er einem Stein hinterherblickte, der durch die warme Luft zischte, dachte er, dass es trotz der Wut,
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