Papa ante Palma
über.
Wie ist das möglich? Plattentektonik? Ja, wir müssen über Nacht mit der Mallorca-Scholle irgendwie durch die Meerenge von Gibraltar nach Grönland abgetrieben sein. Anders ist das nicht zu erklären. Die zweite Möglichkeit wäre, dass die Mallorquiner traditionell gerne frieren und daher die Häuser so bauen, dass sie im Winter zuverlässig auskühlen und feucht bleiben. Vielleicht hat das ja irgendwelche positiven Einflüsse auf die Gesundheit? Nur leider will mir gerade keiner einfallen.
Sinnierend sitze ich auf der weichen Schaumkante des Wasserbettes und muss spontan an Wolfgang denken. Er hat recht behalten. Es ist tatsächlich noch viel kälter und unbehaglicher im Haus geworden. Ach, fange ich an zu schwelgen, jetzt ein überheiztes deutsches Schlafzimmer, in dem die Luft so trocken ist, dass man sich während der Nacht einmal komplett häutet. Ja, und dann morgens einfach mal barfuß in die Küche hüpfen, ohne Angst, dass man seine erfrorenen Zehen hinterher einzeln auflesen muss. Nirgendwo zieht es oder regnet es rein. Allein die Erfindung eines raumfüllenden Teppichs kommt mir momentan nobelpreisverdächtig vor. Ach, mein Deutschland! Eigenartig, dass ich mich ausgerechnet nach dem deutschen Winter sehne. Die Jahreszeit, in der man fast nur miesepetrige Menschen unter mehreren Schichten Fleece- und Daunenklamotten sieht, die so schnell wie nur möglich von Hauseingang zu Hauseingang hetzen.
Aber in den warmen Stuben erwarten sie herrliche Spiele- und Racletteabende. Tiefschürfende, wenn auch manchmal ein bisschen zu tiefschürfende Gespräche auf molligen Sofas. Dazu Fußbodenheizungen, die den Menschen zuraunen: »Kommt her und setzt euch einfach hin. Ja, ihr habt richtig gehört, direkt auf den Boden. Wir sind schließlich nicht auf Mallorca, wo euch auf den kalten Steinen der Arsch auf Grundeis geht.«
Ich muss mich dringend aufwärmen. Ein Tee könnte helfen, überlege ich und schlüpfe in die alten Filzpantoffeln, die ich gerade in den letzten Tagen ganz besonders ins Herz geschlossen habe. So schlurfe ich langsam die Treppe hinunter in die Küche, wo mich das gleiche Bild erwartet. Sechs Grad bei neunzig Prozent Luftfeuchtigkeit. Das Küchenfenster ist beschlagen. Immer wieder bilden sich Tropfen und wandern die Scheibe hinunter, um sich in einer kleinen Lache auf dem unteren Teil des Holzrahmens zu verlieren. Wie Akne auf einem Teenagergesicht, hat sich Schimmel in kleinen, verstreuten Kolonien an der Decke breitgemacht. Ich setze den Tee auf und greife mit einer Hand zum Weihnachtsteller, auf dem noch ein paar aufgeweichte Spekulatius liegen.
Es war unser erstes Weihnachten auf der Insel, im Jahr davor sind wir noch nach Deutschland zu meinen Eltern und auch kurz zu Prude gefahren. Meine Mutter hatte damals ihren persönlichen Spritzgebäckrekord gebrochen und achtzehn verschiedene Plätzchensorten gezaubert, der Kinder wegen, wie sie fast entschuldigend erklärte. Prude dagegen war mit uns schlotternd durch Hannover gelaufen, nicht ohne leise über die Kälte zu fluchen, und hatte uns stolz die Innenstadt gezeigt. Insgesamt blieben wir eine Woche in Deutschland und schliefen eine Nacht unruhiger als die nächste. Die Kinder waren wie auf Drogen. Zuckerschock, meinte Lucia. Geschenkeschock, meinte ich. Für uns war die trockene Heizungsluft mittlerweile so ungewohnt, dass wir morgens das Gefühl hatten, ohne Schleimhäute aufzuwachen. Daraufhin hatten wir beschlossen, Weihnachten das nächste Mal hier zu feiern.
Zu meiner Überraschung ist die Stimmung auf der Insel der in Deutschland gar nicht mal so unähnlich. Die Mallorquiner schmücken ihre Fassaden und Fußgängerzonen ganz ähnlich wie wir. Leuchtgirlanden in Rentierform werden über die komplette Plaza gezogen, überall tauchen Weihnachtssterne in den Schaufenstern auf, Legionen von Plastiknikoläusen kleben an den Häuserwänden, Kirchen werden angestrahlt, Krippen aufgestellt, kleine Weihnachtsmärkte aufgebaut und alte Frauen wackeln allabendlich eingehakt über das Kopfsteinpflaster zur Messe. In den schmalen Gassen hallen ihre Schritte so laut, als wären sie Hunderte. Auch die kurzen Tage und die pechschwarzen, kalten Nächte erinnern nur wenig an die vollen Sommerstrände der Lichtinsel.
»Ich freue mich schon richtig auf Weihnachten. Wir werden den Kids das volle Brett geben. Baum, Bescherung, süße Teller. Wie zu Hause«, sagte ich vor knapp einem Monat beim gemeinsamen Abendbrot mit Lucia und den
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