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Papa ante Palma

Papa ante Palma

Titel: Papa ante Palma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Keller
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ein
unbekanntes Gewürz, das seinen Weg über Tausende von Kilometer entlang der
Seidenstraße zu mir gefunden hatte. Letztlich waren die beiden Mädchen genau
das: ein unbekanntes Würzmittel, und fortan unverzichtbar auf meinem emotionalen
Speiseplan – allerdings durfte ich davon nicht zu viel nehmen.
    Gleichzeitig spürte ich, wie sich in mir ein
uraltes Gen Bahn brach, das Ich-will-Kinder-kitzeln-und-hochwerfen-Gen. Ein
Schläfergen, das sich vierunddreißig Jahre im Verborgenen aufgehalten hatte.
Vermutlich befand es sich in guter Gesellschaft mit dem Freude-am-Garten-Gen,
das in fünfzehn Jahren in Erscheinung treten würde, oder dem
Ich-mag-organisierte-Busreisen-mit-Verkaufsveranstaltung-Gen, das vermutlich in
dreißig Jahren erwachen würde.
    Waltraud bremste mich, als ich wieder mal
versuchte, mit anhaltenden Kitzelattacken die Kinder zum Lachen zu bringen.
    »Wenn du so weitermachst, dann werden dat noch
Clowns, warchte besser noch ein bisschen damit«, empfahl sie mir mit ihrer
typisch zurückhaltenden Art.
    »Geht klar«, sagte ich und ließ die beiden in
Ruhe.
    Es war erstaunlich, dass ich Waltrauds Anweisung
aufs Wort folgte. Ich kann mich an keine Frau in meinem Leben erinnern, bei der
ich derart parierte.
    »So, isch glaube, ihr könnt jetzt nach Hause
fahren«, sagte Waltraud nach drei Tagen, als sie Lucia mal wieder beim Wickeln
assistiert hatte. »Die Kinder wären so weit. Die Fraje is nur, ob ihr so weit
seid.«
    »Sind wir«, erwiderten Lucia und ich wie aus
einem Mund.
    Zumindest glaubten wir das. Zu Hause mussten wir
dann jedoch erfahren, dass sich mit einem Mal alles änderte. Just in dem Moment,
als wir die Türschwelle zu unserer Wohnung überschritten, begann Sophie zu
schreien.
    »Sie hat sicher Hunger«, sagte Lucia, deren
Brüste vom Milcheinschuss zu riesigen melonenartigen Gebilden mutiert waren, an
die ich mich auch erst mal gewöhnen musste.
    »Fußballergriff«, sagte ich nur und stellte die
Taschen ab.
    Besagten Griff hatte uns die kompetente Fachkraft
aus Bautzen bei unserem Geburtsvorbereitungskurs gezeigt. Dabei klemmt die Frau
sich die Kinder wie im Schwitzkasten rechts und links unter die Achseln, um sie
zu stillen.
    Lucia nickte und ließ alles stehen und liegen, um
sich sofort in Position zu bringen. Nachdem ich ihr die Kinder nacheinander
angereicht hatte, platzierten wir sie zusammen an Lucias Flanken und drehten sie
in Richtung der Milchhähne. Die Zwillinge schnappten hungrig zu und mühten sich
ab, doch es wollte nicht recht funktionieren. Immer wieder musste Lucia die
beiden ausbalancieren und eins der Mädchen neu andocken. Und meist rutschte
dabei das andere ab.
    »Ich hab’s gewusst. Dieser Fußballergriff ist
totaler Mist«, rief ich.
    »Das wird schon«, erwiderte Lucia zunehmend
verzweifelt.
    Sophie brüllte ununterbrochen.
    Die ganze Zeit ging das so. Einmal nahm ich
Sophie hoch, hielt sie mir vors Gesicht und rief eindringlich: »Haaallo!«, als
ob sich in der Säuglingshülle irgendwo eine intelligente Steuereinheit befände,
die ein Einsehen hätte und das Geschrei auf Knopfdruck beendete. Die Nächte
waren dementsprechend desaströs, und Lucia verbrachte unzählige Stunden mit den
Kindern im Fußballergriff. An Schlaf war nicht zu denken. Für keinen von
uns.
    »Dat sind die Drei-Monats-Koliken, dat is
völlisch normal«, sagte Waltraud bei ihrem ersten Nachsorge-Besuch.
    Doch das Geschrei ging weiter. Eines Tages wog
Waltraud die Kinder, befand, »dat die Würmer zu wenisch auf den Rippen han«, und
ordnete an, die Milchzufuhr ab sofort zweigleisig zu fahren. Das hieß: tagsüber
stillen, in den Stillpausen abpumpen und nachts die abgepumpte Milch
verabreichen.
    Ab diesem Moment bestimmte das Thema »Milch«
unseren kompletten Alltag für mehrere Monate. Da Lucia fortan entweder an der
Pumpe saß oder den Fußballergriff anwendete, war ich derjenige, der nachts
aufstand, um die Milch aufzuwärmen und die Kinder zu füttern. Hatte ich vorher
Milch für ein Massengut gehalten, das ich verschwenderisch ins Müsli oder den
Kaffee schüttete, lernte ich jetzt, dass sie extrem kostbar war. Dementsprechend
behandelte ich die kleinen Ampullen so vorsichtig wie ein explosives Gemisch.
Vergoss ich beim Umfüllen auch nur einen Milliliter davon, fing ich laut an zu
fluchen. Luna trank die im Wasserbad erwärmte Milch hastig und schlief danach
weiter. Sophie trank ebenfalls hastig und schrie danach weiter. Die Koliken,
dachte ich.
    Da ich im Tonstudio viel zu tun

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