Papa ante Palma
Unverzeihlich.
Offensichtlich befinde ich mich mitten in einem entwicklungsbedingten sportlichen Konkurrenzkampf mit meinem Erzeuger, doch allen Theorien zum Trotz − das schwöre ich − geht es dabei nicht um meine Mutter.
Plötzlich rennt mein Esel Hals über Kopf los, wobei er selbst mit einem Furz für den Startschuss sorgt. Die ersten zwanzig Meter kann ich mein Glück kaum fassen, denn bei dieser Geschwindigkeit fliegen wir bald an allen anderen vorbei, auch an Muli Dick. Aber dann kommt die erste Kurve, und mein Esel kann, ja will bei dieser enormen Geschwindigkeit nicht mehr reagieren. Er rennt stur geradeaus, den Erdwall hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter direkt in einen Olivenhain. Ich bekomme Angst. Wo will das Vieh hin? Auf den Eselfriedhof, wie bei den Elefanten? Mein Muli ist völlig außer Kontrolle, und kurz darauf erreichen wir den Hain in wildem Bocksprung-Rodeo-Galopp. Ich schreie. Der Esel schreit. Dann wird es Nacht.
Als ich aufwache, hockt mein Vater neben mir, während hinter ihm Muli Dick friedlich grast. Er hat das Rennen abgebrochen und ist hinter mir her geritten, als er gesehen hat, dass mein Esel ausbricht.
»Dein Esel hat im Olivenhain zielstrebig einige Bäume mit dicken, tiefhängenden Ästen angesteuert. Beim dritten Baum bist du mit dem Kopf dagegengeknallt und ohnmächtig heruntergefallen«, sagt er.
»Papa, aber du hättest doch gewonnen!«
»Was gewonnen?«
»Na, das Rennen!«
»Das war kein Rennen. Wir sind alle nur ein bisschen auf ein paar alten Eseln im Kreis geritten«, sagt er und grinst.
Gut, dass du da bist, denke ich.
Dann höre ich hinter mir einen der Esel schreien. Es ist ein sehr vertrautes Geräusch. Das Schreien wird so laut, dass ich davon aufwache. Es ist gar kein Esel, sondern Sophie. Ich versuche sie nochmals zu trösten und lege sie danach behutsam wieder hin. Nach einer Weile wanke ich, begleitet von dem schrillen Konzert, zurück ins Schlafzimmer.
»Morgen werde ich irgendwas kaufen, was sie beruhigt«, sage ich zu Lucia, die mich fragend ansieht. Dann mache ich das Licht aus und stecke den Kopf unter das Kissen.
Am nächsten Morgen bringe ich die Kinder völlig übermüdet zum Hort. Unterwegs versuche ich, jedem denkbaren Gespräch aus dem Weg zu gehen, und mache selbst um Gema einen Bogen.
Maria und Josef 1 sieht mir die schlechte Laune sofort an. »Schlechte Nacht gehabt?«, erkundigt sie sich besorgt.
»Ja, ich habe mich daran erinnert, dass ich als Kind schon mal auf Mallorca war und damals nicht nur von einem Esel reingelegt worden bin, sondern auch noch fast ertrunken wäre. Zudem hat eine der señoritas hier die ganze Zeit Rabatz gemacht. Ich habe also kaum geschlafen.«
Maria und Josef 1 zieht mitleidig die Augenbrauen seitlich herunter und verpasst mir urplötzlich einen aufmunternden, aber derart harten Schwinger aufs Zwerchfell, dass mir schier die Luft wegbleibt.
»Ach was, du gehst jetzt einen schönen Kaffee am Strand trinken und machst mit den Kindern heute Mittag eine Siesta. Danach sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.«
»Ja, puhhh, danke«, sage ich.
Schlafmangel ist purer Horror. Bereits nach ein paar schlaflosen Nächten hintereinander glaubt man, die Schatten unter den Augen stammten daher, dass die Stirn sich nach vorne gewölbt habe und das Licht ungünstig falle. Dauert die schlaflose Zeit gar mehrere Monate an, beginnt man vermehrt Lichtblitze zu sehen, die im Spiegel alles andere überblenden. Dadurch gelangt man leicht zu der Überzeugung, gar keine Schatten unter den Augen zu haben. Nach einem Jahr ohne eine einzige erholsame Nacht glaubt man, seinen gesamten Kopf nicht mehr zu spüren. Und wo nichts ist, da können auch keine Schatten sein. Anstelle des Kopfes hat ein Dauerbrummen auf dem Hals Platz genommen, eine Mischung aus gregorianischen Chorälen und einem LKW -Motor, garniert von einem Pfeifen aus der Ferne. Wenn es zudem schlimmer wird, sobald man sich anstrengt, liegt eindeutig ein Baby-Burn-out vor.
Mit dem Partner redet man beim Frühstück kaum noch darüber, wie müde man aussieht, als vielmehr darüber, wie laut man sich anhört. Man glaubt wieder an die unbefleckte Empfängnis und den Osterhasen und würde nur zu gerne sentimentale Briefe an flüchtige Bekannte schreiben – wenn man bloß die Zeit dazu hätte. In Bus und Bahn streckt man wie in Zeitlupe die Arme aus, um wildfremde Menschen zu berühren, in der Hoffnung, man könne den inneren Lärm irgendwie ableiten
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