Papa ante Palma
es sofort. Aus Versehen bin ich hinter der Kante gelandet, im tieferen Wasser. Hier ist es dunkler, kühler … Meine Füße finden keinen Halt. Ich ertrinke.
Alles geht ganz schnell, und dennoch scheint alles zeitlupenhaft verlangsamt. Ich schreie. Aber was nützen Schreie unter Wasser, selbst wenn oben alles still und friedlich daliegt? Ich rudere wild mit den Armen. Vergebens.
Ich sehe die Sonne, die von oben in den Pool knallt, ein wenig wabert und schaukelt, aber sie ist ein Kreis, immer noch, selbst hier unten im Wasser. Unter mir befinden sich Hunderte von diesen blauen Fliesen. Gestern erst habe ich sie noch gezählt – im Nichtschwimmerbereich. Ich sehe das komische Bullauge vor mir, in dem ein Scheinwerfer untergebracht ist, damit der Pool auch im Dunkeln etwas hermacht. Neulich Nacht konnte ich von meinem Zimmer aus beobachten, wie einige Jugendliche ihn mit ihren Körpern bedeckt haben. Von oben hat es so ausgesehen, als glühten ihren Bäuche, aber der Pool war fast dunkel. Ich sehe auch den Beckenrand, aber ich werde ihn nicht erreichen.
Panik empfinde ich nicht. Mir fehlt die präzise Vorstellung vom Tod. Ich kann nicht sterben. Ich bin ein Kind. Kinder sterben nicht, schon gar nicht bei Pumpernickel. Und in Filmen sterben auch immer nur die Alten und Fiesen. Ich schlage noch ein paar Mal mit den Beinen, fast lustlos. Es macht weder Geräusche, noch bringt es mich ein Stück nach vorne. Nur wenige Sekunden bis zur völligen Bewusstlosigkeit. Kein Tunnel, keine Bilderabfolge. Nichts.
Wasser läuft mir in die Lungen.
Dann zischt es, und ein brauner, gestählter Körper sticht auf elf Uhr ins Wasser. Von unten sehe ich zwei große Luftblasen aus seinen Nasenlöchern entweichen, die rechts und links von seinem Schnauzer an die Oberfläche blubbern.
Mit einem festen Griff unter meine Achseln stemmt er mich nach oben: Papa!
Nee, Herr Engels aus Düsseldorf.
Herr Engels aus Düsseldorf hat zwar nicht hingesehen, aber er hat instinktiv mitgezählt. Sein archaisches Jagdgefühl hat ihm gesagt, dass etwas Lebendiges irgendwann wieder auftauchen muss, wenn es zuvor ins Wasser gesprungen ist. Wäre ich ein Grauwal, hätte mich Herr Engels vor ein paar tausend Jahren vermutlich harpuniert, sobald ich aufgetaucht wäre, aber wir schreiben das Jahr 1978. Herr Engels hat nichts außer Tiroler Nussöl zur Hand, ich bin ein Kind von fünf Jahren. Herr Engels hat mir das Leben gerettet.
»Sie sind sozusagen unser Schutz-Engels«, bedankt sich meine Mutter überschwänglich bei ihm.
Natürlich will ich für den Rest des Urlaubes genauso sein wie Herr Engels. Vom Tag meiner Rettung an imitiere ich ihn. Seinen Gang. Wie er spricht. Wie er isst. Wie er ein Getränk ansieht, bevor er es ansetzt und hinunterkippt. Hätte ich schon Bartwuchs, ich würde mir den gleichen Schnauzer stehen lassen wie er. Alleine des Bierschaums wegen, der nach jedem Schluck kurz an seinen Bartspitzen haftet und dann auf mysteriöse Art verschwindet. Heimlich schaue ich mir auch die Art ab, wie er seine Frau anfasst, wenn wir über die Strandpromenade flanierten – für später sozusagen.
Herr Engels mag Witze. Am liebsten die, bei denen drei bis vier Männer unterschiedlichster Herkunft, etwa ein Amerikaner, ein Franzose, ein Chinese und ein Ostfriese, in derselben Situation stecken und unterschiedlich reagieren. Vom Hochhaus springen, in einem Bienenschwarm ausharren, in der Bar protzen. Also erfinde ich täglich neue Länder-Witze, renne zu der Sonnenliege, auf der Herr Engels gerade friedlich döst oder Zeitung liest, und zähle ihm die neuesten so schnell und nervös auf, als ginge es um das obligatorische Weihnachtsgedicht vor der großen Bescherung. Er wäre nicht Herr Engels, wenn er nicht mit viel Humor und Verständnis darauf reagieren würde. Mein Herr Engels!
Ein paar Tage später fahren mein Vater und ich mit dem Bus aufs Land. Er hat eine Überraschung geplant. Nach ein paar Kilometern auf engen, von Bruchsteinen gesäumten Straßen, biegen wir auf einen staubigen Camino ein und halten schließlich neben einer ovalen Sandpiste. Ein Eselverleih. An die fünfzig Tiere stehen gleich neben dem Parkplatz und warten darauf, mit ihrem Ballast aus Oberhausen, Stuttgart und Kiel in die ovale Bahn getrieben zu werden. Es handelt sich dabei um eine von Erdwällen umspannte Sandpiste, in der die Esel zeigen können, was in ihnen steckt − was natürlich auch für die Tiere gilt.
Beim sogenannten ase mallorquí handelt es sich
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