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Papa ante Palma

Papa ante Palma

Titel: Papa ante Palma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Keller
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des Neckars Mantras aufzusagen.
Nur was hatte das alles mit mir zu tun?
    Vielleicht war es die finale Chance, vor der
Geburt der Zwillinge noch mal auszubrechen und das Gefühl zu genießen, zum
letzten Mal in diesem Leben nur für mich selbst verantwortlich zu sein. Falls
ein Mensch das überhaupt je ist. Trotz dieser Argumente kam mir der ganze Akt
irgendwie lachhaft und ein wenig fadenscheinig vor. Als ob ich für ein
fragwürdiges Gefühl von Freiheit mit dem Fahrrad durch triste Industriegebiete
zum Grab eines mir völlig unbekannten Apostels fahren müsste, während Lucia in
Deutschland die Zwillinge in einem riesigen Fass vor sich her trug, mit dem sie
kaum noch die Treppe hochkam. Aber für derartige Zweifel war es nun zu spät.
    Langsam rollte ich in Richtung Bilbao los. Ich
wollte so schnell wie möglich ans Meer und von dort die rund sechshundert
Kilometer an der Küste entlang Richtung Westen nach Santiago de Compostela
fahren.
    Die ersten beiden Berge bezwang ich allein dank
der Hoffnung, auf der anderen Seite bereits das Meer sehen zu können.
Stattdessen stand ich vor dem baskischen Matterhorn. Zu allem Übel setzte auch
noch heftiger Regen ein, und ich sah mich letztlich genötigt, die Regenkombi mit
den Sicherheitsstreifen überzuwerfen. Die hatte Lucia mir gegen meinen Willen
eingepackt, wie eine Mama, die ihrem Kind das ungeliebte Pausenbrot mit
Schmierkäse in den Ranzen steckt. Ständig wurde ich angehupt, die Steigung nahm
kein Ende, und selbst die Abfahrt wurde zur Quälerei. Je näher ich Bilbao
rückte, desto breiter wurde die Straße, und ehe ich’s mich versah, landete ich
statt am Meer auf der vierspurigen Stadtautobahn.
    Ich passierte die tristen Plattenbauten der
Vorstädte, dann Industrieboulevards einer vergangenen, besseren Zeit und fuhr
unbewusst immer schneller an dem Fluss entlang, der die Stadt teilt. Jeder Fluss
mündet irgendwann ins Meer , beschwor ich mich
selbst. An einer Stelle neben einer Chemiefabrik atmete ich ein süßes Gas ein,
das mir die Kehle aufraute und nach alten Mirabellen schmeckte. Mein Tacho
zeigte vierunddreißig Stundenkilometer an.
    Der heilige Santiago dagegen zeigte Milde mit
mir, denn die Landschaft um mich herum veränderte sich. Aus den
Industriekomplexen wurden allmählich stattliche Wohnblöcke und anstelle der
Kräne flankierten ehrwürdige Platanen die Ausfallstraße. Mein Puls beruhigte
sich, ich war tatsächlich am Meer.
    Bereits nach wenigen Kilometern an der Küste
klarte es auf, und die ersten Sonnenstrahlen meiner Pilgerreise knallten mir auf
den Helm. Alles wird gut, sagte ich mir. Regencombo ausziehen, Stulle essen,
durchhalten.
    Nach weiteren vierzig Kilometern erreichte ich
Castro Urdiales, einen malerischen Ort mit einem alten Fischerhafen. Ich
beschloss, für die Nacht hierzubleiben, und suchte die örtliche Pilgerherberge
auf.
    Ich hatte mir vor meiner Abreise viel darunter
vorgestellt, am ehesten vielleicht eine Jugendherberge für Erwachsene oder ein
Kloster oder, im schlimmsten Fall, eine heruntergekommene Pension, die von der
Stadt unterhalten wird. Doch ganz sicher hatte ich keine Umkleidekabine in einer
Tennishalle erwartet. Aber genau das war es. Als man mich zu der Halle schickte,
war ich noch der Überzeugung, es gehe darum, dort jemanden zu finden, der mir
dann die Pilgerherberge aufsperrte, vermutlich eines der vielen kleinen putzigen
Natursteinhäuser. Doch als ich dem kleinen, geckoartigen Mann im Eingangsbereich
erklärte, dass ich ein Pilger sei, führte er mich wortlos den Gang hinunter zur
Männerumkleide. Dort lagen zwischen Umkleidebänken und den Duschen drei
vermilbte Schaumstoffmatratzen nebeneinander auf dem Boden. Auf zweien davon
waren bereits Wanderrucksäcke deponiert, die dritte konnte ich haben.
    »Um zehn Uhr wird das Licht ausgeschaltet und die
Musik auch«, sagte der Mann.
    »Welche Musik?«, fragte ich.
    Er deutete auf einen der Deckenlautsprecher, aus
dem leise Julio Iglesias in die Kabine sudelte, und schloss die Tür.
    »Können Sie die Musik nicht gleich ausmachen?«,
rief ich ihm noch hinterher.
    Als ich mich gerade aus meinen Radklamotten
schälte, kam ein katalanisches Paar Anfang zwanzig herein. Meine Pilgerkollegen
waren schüchtern, aber freundlich. Der Mann hatte einen Fusselbart und war
extrem abgemagert. Sie hingegen war noch recht rund und kindlich, mit kleinen
Titten, die durch ihr T-Shirt wie Igelschnauzen aussahen.
    »Wir sind zu Fuß unterwegs, seit vielen Wochen,
und bereits auf dem

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