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Papa

Papa

Titel: Papa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven I. Hüsken
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Ziel. Die Kugel zischte an ihr vorbei und schlug über ihr in den Kasten. Der Mechanismus im Innern ratterte los. Die Fäden spannten sich.
    Die Frau auf der Liege heulte auf.
    Michelle griff reflexartig nach den sich spannenden Fäden und hängte sich daran.
    Sie spürte, wie ein Gewicht mit einem Ruck daran zog. Ein letzter Schnitt befreite die Frau, die sich seitlich von der Liege rollte.
    Der Mann richtete die Waffe nun direkt auf Michelle. Mit einem starken chinesischen Akzent schrie er sie an:
    »Nicht bewegen. Lass Messer fallen. Sofort!«
    Sie klammerte sich an das Schweizer Taschenmesser, als hielte es eine Funktion bereit, die so allmächtig war, dass sie Michelle aus dieser Lage befreien konnte.
    »Messer fallen lassen!«, wiederholte der Mann und fuchtelte wild mit der Pistole.
    Michelle wurde klar, dass dieser Mann sie nicht erschießen wollte. Wahrscheinlich hatte er den Befehl, sie lebend zu fangen. Ya-Long P’an hatte noch Pläne mit ihr.
    Ein dumpfes Knurren ließ beide herumwirbeln. Niemand hatte an die Frau gedacht, die aus ihrer Starre erwacht war. Ihre Augen starrten blutrot, ihr sehniger, nackter Körper war angespannt, dreckig und blutverkrustet. Sie hatte nichts Menschliches mehr an sich, glich eher einem Raubtier. Ein paar Fäden hingen ihr noch aus dem Mund.
    Ihr Blick ließ keine Zweifel, auf wen sie es abgesehen hatte.
    Der Chinese hatte nicht mehr die Zeit, die Pistole auf das neue Ziel auszurichten. Die Frau sprang ihm entgegen und bohrte ihre dürren Finger in seinen Hals, als wollte sie ihm die Kehle herausreißen.
    Aus der Pistole lösten sich ein paar Schüsse, die in den Boden gingen. Er taumelte zurück, schrie, sein Gesicht schmerzverzerrt. Blut färbte seinen Kragen rot.
    Die Frau schlang ihre Beine um seine Hüfte. Seine Knie gaben nach, und beide fielen auf das Linoleum.
    Michelle klappte die Schere ein und steckte das Messer in ihre Tasche. Im ersten Moment wollte sie dazwischengehen und der Frau helfen. Doch das, was sich vor ihr auf dem Boden wälzte, war der Realität so entrückt, dass keine Hilfe möglich war.
    Die Frau, die sich mehr und mehr in einen Dämon zu verwandeln schien, biss ihrem Opfer ins Gesicht. Ihre Zähne bohrten sich tief in die Wangen, und Blut sprudelte hervor. Das trockene Gurgeln, das aus ihrer Kehle kam, blähte sich zu einem Schrei auf.
    Der Mann warf sich hin und her, versuchte vergeblich, sie abzuwerfen, schlug verzweifelt auf ihren Rücken, doch sie schien es nicht einmal zu bemerken. Es sah aus, als hätte sie auf der Liege für genau diesen Moment Kraft gesammelt, um sie in einem unmenschlichen Akt der Zerfleischung freizulassen. Wie ein Zirkuslöwe, der in einem Augenblick der Überlegenheit die Chance auf Freiheit witterte.
    Der Mann schob die Pistole unter den Körper der Asiatin und feuerte die letzten Kugeln ab, die noch im Magazin waren.
    Als die Frau leblos zur Seite kippte, war von seinem Gesicht kaum noch etwas übrig.
    Michelle wandte sich ab und stieg über die Trümmer der Tür.
    Sie hatte keine Zeit für Trauer oder Ekel oder sonstige Eitelkeiten. Nicht einmal für Menschlichkeit. Sie musste funktionieren, um aus diesem unwirklichen Labyrinth des Schreckens zu entkommen.
    Nach nur wenigen Metern versperrte ihr eine weitere Tür den Weg.
    Hinter ihr wurden Stimmen laut. Schreie hallten durch die Flure. In den Reihen ihrer Verfolger schien Panik ausgebrochen zu sein. Michelle konnte es förmlich
riechen
.
    Sie griff die Verriegelung, die aus einem einzelnen Hebel bestand. Er sah nicht abgegriffen aus. Der rote Lack glänzte, als wäre er erst gestern aufgetragen worden.
    Der Hebel senkte sich ganz langsam.
    Viel zu langsam.
    Michelle konnte hören, wie die Männer hinter ihr ausschwärmten. Wie sie nach ihr riefen.
    Sie hängte sich mit ihrem ganzen Körper an die Stange und zog, so fest sie konnte.
    Bitte, bitte, bitte …
    Als der Hebel einrastete, musste sie ein Jauchzen unterdrücken. Die Tür schwang auf, und die Welt, die eben noch surreal erschien, verwandelte sich in spießige Banalität.
    Ohne zu zögern, trat sie in das gutbürgerliche Wohnzimmer eines konservativen Häkelfetischisten und ließ die Tür hinter sich mit einem metallischen Donnern ins Schloss fallen.
    Sie fasste das braune Cordsofa mit beiden Händen und zog es vor die Tür. Das würde ihre Verfolger nur kurz aufhalten. Sie musste sich beeilen.
    Aus dem vorderen Teil der Wohnung hörte sie Schritte. Nein, nein, nein! Sie schaute nach rechts und links, riss

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