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Papa

Papa

Titel: Papa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven I. Hüsken
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Baumkronen, die sich rauschend von einer Seite auf die andere neigten. Nebelschwaden schoben sich durch das Unterholz, das spärlich den Waldboden bedeckte, wie Horden von Geistern, die rastlos umherirrten.
    Diesen Wald hatte er schon als Kind geliebt und durchstreift. Zusammen mit dem nahegelegenen See hatte dies seine Kindheit ausgemacht.
    Er stockte.
Seine
Kindheit? Es war verwirrend, wie schnell ihn Kleinigkeiten wie Gerüche aus der Fassung brachten. Natürlich war es nicht
seine
Kindheit gewesen, denn jetzt führte er ein anderes Leben. Zumindest war er auf einem guten Weg dahin. Es war die Kindheit seines früheren Ichs.
    Die Unterbrechung ärgerte ihn. Er war wie ein Schauspieler, der aus seiner Rolle fiel. Doch das würde ein Ende haben. Sobald er Michelle in seinen Händen hielt und sobald alles andere erledigt war.
    Er setzte seinen Weg fort, bis er bei einer Hütte ankam. Eigentlich glich sie mehr einem Bretterverschlag. Das Holz war löchrig und verpilzt, in den Fenstern flatterten zerrissene Planen, die als Glasersatz gedient hatten, und aus dem Dach wuchs eine junge Birke. Früher diente die Hütte den Förstern als Unterschlupf, doch schon seit Jahren kam niemand mehr her.
    Tommi ging an ihr vorbei zu einer Eiche, die sich alt und knorrig zum Himmel streckte.
    Hier vernahm er das Wimmern, das der Wind bisher übertönt hatte.
    Er umrundete den Baum, und als er den hohlen Klang der Bohlen unter seinen Füßen hörte, trat er zur Seite. Vor ihm lag, mit Blättern und Ästen getarnt, der Zugang zu einem Versteck.
    Tommi entriegelte den Deckel, hob ihn an und warf die Tüte, die er bei sich trug und in der ein paar Salzstangen, einige trockene Kekse und eine Flasche mit etwas Wasser lagen, in das Loch, das er vor wenigen Tagen ausgehoben und mit Plastikplanen ausgekleidet hatte.
    Das, was dort unten lag, halb verdurstet, war ihm fremd. Er ignorierte das sich krümmende Fleisch und das Jammern und Winseln.
    Der Köder in der Falle war dem Jäger gleichgültig.
    Als das Loch wieder verriegelt war, machte er sich auf den Weg zu Frau Lammert. Schauen, ob sie besser sehen als hören konnte.
    Die Regentropfen wurden dicker und zahlreicher. Der Wind peitschte Tommi Wasser ins Gesicht, was ihm die Sicht nahm. Dennoch verlor er sein Ziel nicht aus den Augen. Sie alle würden büßen müssen. Sie alle, die mit dem Finger auf andere zeigten, ohne zu erkennen, dass sie nicht anders waren.
    Wenn seine Verwandlung erst einmal vollzogen war, würde er der Racheengel sein, der die Gerechtigkeit zurück in die Welt brachte. Er würde allen zeigen, dass niemand ohne Schuld ist. Erst kam die Kunst, dann die Aufmerksamkeit und am Ende die Erkenntnis. Er spürte, wie die Erregung in jede Faser seines Körpers kroch.
    Es fühlte sich ja so gut an!
    Er verließ den Wald und ging um sein Grundstück herum, an einem Bach entlang bis zur Straße.
    Leider durfte es keine Zeugen geben, sonst wäre sein Feldzug vorbei, bevor er angefangen hatte. Das Kribbeln unter der Haut verblasste.
    Frau Lammert hatte ihre Chance. Sie hätte sich raushalten sollen. Warum steckte sie überhaupt ihre Nase in Dinge, die sie nichts angingen?
    Er schlug mit der Faust gegen seinen Oberschenkel.
    Sie war ein Risiko, und selbst ihre Leiche würde eines sein. Er spürte die Wut, die sein Blut erhitzte.
    Diese dämliche Frau machte alles kaputt!
    »Tommi!«
    Er blieb mitten auf der Straße stehen und blickte sich um. Hinter ihm stand Lillian. Ihre Arme hingen rechts und links an ihr herab, als wäre sie kraftlos und würde jeden Moment zusammensacken.
    Er hatte doch alle Türen und Fenster verriegelt. Es war unmöglich, dass sie nach draußen gehen konnte. »Geh ins Haus!«, schrie er und sah sich panisch um. Wenn jemand sie sah, wäre es ebenfalls vorbei. Er marschierte mit großen Schritten auf sie zu.
    Lillian sah ihn mit großen Augen an, ohne sich zu rühren. Der Regen schien ihr nichts anzuhaben. Ihr Haar fiel in Wellen über die Schultern, und ihre Haut sah samtig aus. Wie ein Engel stand sie da und wartete, bis er sie erreicht hatte.
    Tommi packte sie an den Schultern und schüttelte sie durch. »Was zum Teufel machst du hier? Bist du … du machst mich wirklich wütend.«
    »Komm wieder rein«, flehte sie. »Das hier bist du nicht. Was willst du denn tun? Deine Nachbarin hat vielleicht gar nichts getan. Willst du sie umbringen, nur wegen einer Vermutung? Damit machst du es doch nur noch schlimmer. Komm ins Haus. Bitte!«
    Tommi ließ sie los und

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