Paperweight: Literarische Snacks (German Edition)
Leser dieser Zeilen werden jetzt behaupten, jegliche Kritik an Amerikas Engagement in der Golfregion laufe auf »moralische Unterstützung des Feindes« hinaus, ein Verbrechen, das ausschließlich orthodoxeste Einschätzungen der Lage erlaube. Ich bewundere Amerikas bemerkenswerte und mutige Initiative ungeheuer. Ich bin sicher, der durchschnittliche amerikanische Soldat ist ein so anständiger, tapferer und zivilisierter GI wie eh und je. Sie sind unsere Verbündeten, Schulter an Schulter stehen wir mit ihnen in der Wüste. Aber darüber hinaus würde ich noch gern glauben (töricht, keine Frage; naiv, ganz klar), daß wir für dieselbe Sache kämpfen – den Widerwillen gegen Fanatismus, Fundamentalismus und Barbarei – unddaß rachsüchtiger Grimm und ungehemmter Machismo nicht Teil unserer Strategie sind.
Treten wir Saddam im Namen der Zivilisation entgegen, nicht im Namen unserer eigenen Wildheit.
Die richtigen Züge machen
Uns allen ist bekannt, daß die englische Mannschaft im Tauziehen in den vergangenen Jahrzehnten unvergleichliche Erfolge gefeiert und mit solcher Beständigkeit sämtliche Weltmeisterschaften gewonnen hat, daß die Welt vor Neid nach Luft schnappt. In den Nachbarsportarten Fußball, Tennis und asynchrones Brustschwimmen wollte sich der Erfolg nicht so recht einstellen, aber es ziemte sich auch nicht, wenn wir uns alle großen Sporttrophäen an die männlichen Brustkörbe pressen wollten. Auf einem Gebiet allerdings – halb Sport, halb Spiel – ist der Briten Können im großen und ganzen unverkündet geblieben. Ein halbes Jahrhundert lang hat Rußland die Schachwelt beherrscht, sie abgesteckt und sich zu eigen gemacht. Wie ist es also möglich, daß England die zweitstärkste Schachnation der Welt ist?
Auch wenn jetzt aufs neue Karpow und Kasparow um den Weltmeistertitel ringen, hat England, das noch vor fünfzehn Jahren keinen einzigen Großmeister in seiner Geschichte vorzuweisen hatte, heute mehr davon als irgendein anderes Land außerhalb der Sowjetunion. Alles begann mit Tony Miles, dem Schöpfer der außerordentlichen Birminghamer Verteidigung, ebenfalls dazu gehören Nigel Short und Jonathan Speelman, zwei der besten Spieler, die es je gegeben hat.
Die englische Schachexplosion, die vor zehn Jahren eingesetzthat, war angeblich die Folge davon, daß junge britische Spieler von dem monumentalen Zusammenprall von Spasskij und Fischer in Reykjavík 1972 inspiriert wurden. Das beantwortet aber nicht die Frage, warum
amerikanische
Spieler nicht genauso entflammt wurden. Es ist befremdlich, daß die Vereinigten Staaten eine schwächere Schachnation als England sein sollen; schließlich bleiben die besten Überläufer bei ihnen hängen; ihre Bevölkerung ist fünfmal so groß. Der englische Schachsport ist noch nie ausreichend finanziert, ermutigt und öffentlich gemacht worden, und dennoch wächst, blüht und gedeiht er.
Meine eigene Theorie, deren Wertlosigkeit ich nicht oft genug betonen kann, läuft darauf hinaus, daß Schach im Grunde eine Theaterangelegenheit ist. Ich habe mich erstmals ernsthaft für das Spiel interessiert, als ich von Smyslows Schraube gehört habe. Es gab da mal diesen russischen Weltmeister Wassily Smyslow, der kürzlich eine Art zweiten Frühling erlebte und vorwiegend bekannt wurde als Meister des Endspiels. Wenn der eine Figur von einem Feld auf ein anderes zog, drehte er sie immer, als schraube er sie in das Spielbrett hinein. Andere ließen ihren Mann einfach fallen oder knallten ihn aggressiv aufs Brett, Smyslow schraubte ihn sachte fest. Psychologisch kann ein solcher Zug verheerende Folgen haben. Er wirkt so endgültig, so vorsätzlich, so absolut sicher. Kasparow beugt sich weit über das Brett, auf eine brütende, bedrohliche und kraftvolle Weise, die mindestens drei zusätzliche Bauern wert ist. Jonathan Speelmans Herangehensweise, sich wie ein gutartiger Tintenfisch über dem Brett zu lümmeln und zu rekeln, ist eigentlich ein humoristisches Verfahren, komisch, aber nicht vulgär, und muß seinen Gegner einfach immens benachteiligen.
Schach ist von spielerischer Schwierigkeit, und ich wähle das Wort »spielerisch« mit etymologischer Sorgfalt. In seinemausgezeichneten Buch
White Knights of Reykjavík
behauptet George Steiner, beim Schach gebe es mehr mögliche Spielzüge als Atome im Universum. Was mich angeht, so glaube ich ihm aufs Wort; es fällt mir nicht im Traum ein nachzuzählen. Wenn dem so ist und angesichts der traurigen
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