Paperweight: Literarische Snacks (German Edition)
dafür verdammen, die Poll Tax gekippt zu haben? Natürlich nicht, wir hätten sie für den Versuch verdammt, sie durchzuziehen, wo sie doch so überdeutlich gegen den Willen der Wählerschaft war. Nur schlechte Politiker bewegen sich nicht. Margaret Thatcher beispielsweise hat den Heath-Kabinetten gute Dienste erwiesen, als sie Maßnahmen in Richtung gemischter Wirtschaftsformen, Pragmatismus, konsensorientierter Politik, hoher Steuern und Interventionspolitik vorantrieb. Im Laufe der Siebziger hat sie sich von diesen Zielen zunehmend entfernt, eine Bewegung, die von konservativer Seite als Anzeichen der Entwicklung politischer Reife gedeutet wurde. Was dem einen recht ist, ist dem anderen billig. Thatcher wechselte von der Mitte zu einer extremeren, orthodoxeren Ideologie; Kinnock hat sich in umgekehrter Richtung bewegt, gewissermaßen von der Dogmatik zur Pragmatik. Ich weiß genau, welche Richtung ich für gesünder und stimmiger halte.
Britische Politik ähnelt dem, was bei Surfern »die Welle erwischen« heißt. Die Torys haben 79 einen richtigen Brecher erwischt, der vielleicht noch nicht ganz abgeebbt ist, sich aber bestimmt schäumend im Sand verläuft. Die Labour Party hat eine neue Welle erwischt, weniger dramatisch, vielleicht eher eine anschwellende Woge, aber dafür auch nicht so überstürzt und gefährlich.
Der moderne Konservativismus wurde auf dem Prinzip eines Atomismus errichtet, der Gesellschaft ablehnte und Menschen als diskrete, autonome Individuen ohne Abhängigkeit von oder Verbindung mit einem holistischen, organischen Ganzen ansah. Margaret Thatcher brachte das nur auf den Punkt, als sie bemerkte, so etwas wie Gesellschaft gäbe es gar nicht. Eine natürliche Folge dieser Mentalität waren die Spaltung, Vulgarität, Rüpelhaftigkeit, Aggression, Intoleranz, Herzlosigkeit, der Verfall und das Chaos einer Brownschen Molekularbewegung, die Britannien seit einiger Zeit charakterisieren.
Seither ist die Produktivität der Industrie um 20 Prozent zurückgegangen, unsere Straßen, Infrastruktur, Gesundheits- und Bildungswesen sind völlig verfallen, und die Verbrechensrate ist wie ein aufgescheuchter Fasan in die Höhe gestiegen. Als Nation desertifizieren wir zusehends, wie jeder Landstrich, der nur des schnellen Geldes wegen ausgebeutet wird, ohne daß man sich um Neugestaltung, Reinvestition und ordentliche Landwirtschaft kümmert.
Ziehen wir den unausbleiblichen Quark von »Visionen« ab, den beide Seiten absondern, dann bleibt uns die Wahl (der Herr sei gepriesen, daß uns Parlamentswahlen bevorstehen, von denen man wenigstens
das
sagen kann) der
Gewichtung
.
Zur Wahl stehen nicht massive staatliche Planungen, Interventionen und Regierungseinmischungen auf der einen und gänzlich uneingeschränkter Wirtschaftsliberalismus auf der anderen Seite; auch nicht vollständige Abschaffung von Steuern unter der einen und böswillige Erhebung extremer Steuersätze unter der anderen Regierung. Die Konservativen werden wie eh und je Steuern auferlegen und in Industrie, Handel und Familienleben eingreifen, sowohl durch Steuerpolitik als auch durch direkte Maßnahmen. Auf der anderen Seite wird unternehmerischeInitiative von einer Labour-Regierung nicht behindert werden. Wenn John Majors Weg aus Brixton nach Chequers als beispielhaft für die Tugenden der Torys angeführt wird, sollte man sich vor Augen führen, daß sein Aufstieg vom gescheiterten Busschaffner zum erfolgreichen Bankier und Abgeordneten unter einer Reihe von Labour-Regierungen erfolgte. Für jeden Wirtschaftswissenschaftler, der höhere Steuern als Hemmnis für unternehmerische Initiative und Wirtschaftswachstum ansieht, finden Sie einen anderen, der das (besonders in Rezessionszeiten) für legitime ökonomische Anreize hält. Für jeden Geschäftsmann, der den Interventionismus verabscheut, finden Sie einen anderen, der sich nach einer stärker geplanten Wirtschaft sehnt, die Anreiz für Investitionen bietet.
Ich bin kein Marxist: meine bekannten Schrullen und Vorlieben machen mich wahrscheinlich zum Mitglied einer, wenn man so will, Flottes-Buffet-Fraktion, also nicht bloß Champagnersozialist, sondern Rosésozialist vom Scheitel bis zur Sohle (und zweifellos zum Versohlen). Gelegentlich hört man eine ermüdende Ansicht, die die Vorstellung eines reichen Sozialisten scheinheilig findet, als verträte der Sozialismus wie das Christentum die Doktrin, man müsse all sein Hab und Gut als Almosen geben. Dazu gehört dann auch, daß die
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