Paperweight: Literarische Snacks (German Edition)
verständlicher werden, und es lohnt sich, weil es einiges darüber aussagt, wie aktiv Fernsehen ist und wie reflexiv die dabei stattfindende Kommunikation.
Die erste Sendung, die ich Ihnen, diese Eigenschaft von Fernsehen stets vor Augen, ans Herz legen möchte, ist
The Marriage
, wo die Verlobung und das beginnende Eheleben eines jungen Paars aus nächster Nähe unter die Lupe genommen werden. Das schauen wir uns aber nicht etwa an, weil gerade dieses Paar uns brennend interessierte; kaum jemand käme wohl auf diesen Gedanken, solange er nicht irgendwie mit den beiden verwandt wäre. Wir schauen es uns mit merkwürdiger Faszination an, weil wir wissen wollen, wie Leute sich benehmen, wenn ihnen zugesehen wird. Makaber? Vielleicht. Voyeuristisch? Auf jeden Fall. Wir wollen sehen, was mit zwei Menschen vorgeht (bei Serienbeginn so normal wie Milchreis), begeisterten Freiwilligen, wenn von einem Fernsehregisseur, seinem Produktionsteam und zwölf Millionen ganz normalen Menschen wie ihnen selbst aufs genaueste und unverschämteste in ihremPrivatleben herumgeschnüffelt wird. Wichtiger noch, wir schauen zu, weil wir wissen wollen, inwiefern wir uns verändern, wenn wir an so einem schaurigen Spektakel teilnehmen, was wir automatisch tun, sobald wir einschalten. Wenn wir aktiv und ehrlich zuschauen, ist die Reaktion keineswegs hochnäsige Verachtung für eine so ekelhafte Veranstaltung, ebensowenig wie Arroganz angesichts der Armut von Geschmack, Phantasie und geistiger Regsamkeit der normalen Menschen hierzulande … obwohl es zu diesen Gefühlen gewiß kein besonders weiter Weg ist. Am Anfang habe ich mir
The Marriage
angesehen, weil ich wußte, daß Millionen es sahen, und am Ende, weil ich wußte, daß es mir gefiel, und herausfinden wollte, warum. Ich weiß es bis heute nicht.
Erkenne dich selbst. Sehen Sie niemals fern, weil es »gut gemacht« oder »sauber produziert« oder »interessant« ist.
The Marriage
ist auch nicht besser als irgendeine andere Sendung, soweit es »Fernsehen« im Sinne des TV-Kritikers betrifft. Sehen Sie fern, weil Sie interessant, sauber produziert und gut gemacht sind.
Letztlich muß man aus keinem anderen Grund fernsehen als dem, daß die meisten Menschen es tun. Als Leser der ›Literary Review‹ studieren Sie selbstverständlich das menschliche Herz und erforschen den menschlichen Geist. Wenn Sie Shakespeare studierten, würden Sie studieren, was sein Publikum las, sah und womit es seine Tage zubrachte. Die Menschen Ihrer Welt führen ihr Leben mit den Colbys und mit Nick Ross und Terry Wogan, mit
Grange Hill, Blockbusters
und The Tube, mit Captain Furillo, »Vorsprung durch Technik« und David Icke, und Sie wissen nicht, wofür auch nur ein einziger dieser Begriffe steht. Ein massiver Referenzrahmen, ein ganzes Diskursuniversum bleibt Ihnen völlig verschlossen, und ich glaube, Ihnen fehlt dadurch etwas.
Und sieht man davon ab, daß Fernsehen ein gesellschaftliches Phänomen ist, ein historischer Text, der gelesen werden muß, ist es – ganz bestimmt sogar – ein, sei’s auch seltener, Schöpfer von Kunstwerken und oft ein Vermittler von Kunstwerken aus anderen Medien: Musik, Malerei und, hauptsächlich natürlich, dem Kino: Fernsehen ist Lehrer, Reisender, Biologe, Arzt, Naturhistoriker, Zeitgeschichtler und eine Fundgrube an Wissen, trivialem wie quadrivialem.
Also, was Sie sich anschauen sollten. Fangen Sie morgens an einem Wochentag mit
Breakfast Time
auf BBC an. Es mag weh tun, John Timpson und Brian Redhead zu verlassen, aber tun Sie’s trotzdem, bloß einen Morgen lang. Schalten Sie gelegentlich auf TVAM um, und achten Sie auf die Überlegenheit von Ausleuchtung und Ausstattung bei der BBC. Achten Sie jedoch auch auf die selbstgefällige Nestwärme der BBC, eine ›Daily Mail‹ neben der ›Sun‹ oder dem ›Mirror‹ von ITV. Stellen Sie sich vor, daß außer Ihnen noch Millionen von Menschen zuschauen, und malen Sie sich deren mögliche Reaktionen auf diese grauenvollen Sendungen aus. Aufs Frühstücksfernsehen können Sie danach verzichten, es sei denn, die IRA zündet wieder einmal Bomben auf einem Brightoner Parteitag oder es passiert etwas ähnlich Sensationelles am frühen Morgen.
Den Nachmittag überlasse ich Ihnen, ich nehme an, Sie gehen einem Broterwerb nach, obwohl ich weiß, daß es unter der Leserschaft einige Lyriker gibt. In das Nachmittagsfernsehen soll schon bald viel Geld investiert werden, aber im Moment besteht es hauptsächlich aus
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