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Papillon

Papillon

Titel: Papillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Charrière
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Bestrafung irgend etwas zu tun zu haben. Es wird sehr schwierig sein, der schweifenden Phantasie zu entkommen. Fast unmöglich. Und ich glaube, es ist besser, sie auf weniger deprimierende Themen zu lenken, als sie gänzlich unterdrücken zu wollen.
    Tatsächlich, es wird durch einen Pfiff angezeigt, daß man die Pritsche herunterlassen darf.
    »Für die Neuen!« höre ich eine grobe Stimme sagen. »Wenn Sie wollen, können Sie jetzt die Pritschen herunterlassen und sich niederlegen.« Ich behalte nur die Worte: Wenn Sie wollen … Ich setze also meinen Marsch fort. Im Moment wäre es eine zu große Marter, schon schlafen zu gehen. Ich muß mich erst an diesen nach oben offenen Käfig gewöhnen. Eins, zwei, drei, vier, fünf – ich verfalle sofort wieder in den Rhythmus des Perpendikels, den Kopf gesenkt, die Arme hinter dem Rücken, mit immer gleich langen Schritten, das muß sein. Wie ein hin- und herschwingendes Pendel gehe ich unaufhörlich auf und ab. Ein Schlafwandler. Wenn ich nach den fünf Schritten an der Mauer anlange, sehe ich sie nicht einmal. Ich streife sie nur leicht bei meiner Umkehr in diesem unermüdlichen Marathonlauf, der nirgends hinführt, dessen Ende nicht abzusehen ist.
    Nein, Papi, wirklich, sie ist kein Jux, diese »Menschenfresserin«. Der Schatten des Postens wandert an der Mauer hin, wie drollig! Wenn man ihn den Kopf heben sieht, ist es noch deprimierender, man kommt sich vor wie ein Leopard in einem Graben, und oben geht der Jäger, der ihn gefangen hat, und beobachtet ihn. Der Eindruck ist gräßlich, und ich brauche Monate, um mich daran zu gewöhnen.
    Ein Jahr hat dreihundertfünfundsechzig Tage. Zwei Jahre, das sind siebenhundertdreißig Tage, wenn kein Schaltjahr dabei ist. Ich muß lachen bei dem Gedanken: siebenhundertdreißig oder siebenhunderteinunddreißig, das ist doch egal… Wieso ist das egal? Nein, es ist gar nicht dasselbe. Ein Tag mehr sind vierundzwanzig Stunden mehr, und vierundzwanzig Stunden sind lang. Siebenhundertdreißig Tage sind viel länger als vierundzwanzig Stunden. Wieviel Stunden sind das eigentlich? Bin ich imstande, das im Kopf auszurechnen? Wie fängt man das an? Das ist unmöglich. Aber warum eigentlich? Versuchen wir’s! Hundert Tage, das sind zweitausendvierhundert Stunden, mal sieben, das ist ganz leicht, macht Sechzehntausendachthundert Stunden, plus dreißig Tage zu vierundzwanzig Stunden, das macht siebenhundertzwanzig Stunden, also insgesamt: sechzehntausendachthundert plus siebenhundertundzwanzig – wenn ich mich nicht geirrt habe: siebzehntausendfünfhundertzwanzig Stunden.
    Verehrter Herr Papillon, Sie haben siebzehntausendfünfhundertzwanzig Stunden totzuschlagen in diesem eigens für wilde Tiere angefertigten Käfig mit seinen glatten Wänden. Wie viele Minuten habe ich hier zu verbringen? Das ist nicht so interessant. Oder doch? Die Stunden, gut. Aber die Minuten? Übertreiben wir nicht. Warum nicht gleich auch die Sekunden? Ach, wichtig oder nicht, es interessiert mich einfach nicht. Ich werde sie mit etwas ausfüllen müssen, diese Tage, diese Stunden, diese Minuten und Sekunden mit mir allein! Wer kann wohl rechts von mir sein? Und links? Und hinter mir? Diese drei Männer müssen sich, wenn die Zellen besetzt sind, doch auch fragen, wer in 234 ist?
    Ein leichtes Geräusch, so als ob hinter mir etwas in meine Zelle gefallen wäre. Was kann es sein? Sollte mein Nachbar so geschickt sein, mir oben drüber durch das Gitter etwas zuzuwerfen? Ich versuche auszunehmen, was es ist. Es sieht aus wie ein langes, schmales Stück Pappe. In dem Moment, wo ich es aufheben will, beginnt sich das Ding, das ich im Halbdunkel mehr errate, als sehe, zu bewegen. Es läuft rasch an die Mauer. Ich zucke unwillkürlich zurück. Es beginnt die Mauer hinaufzuklettern und rutscht wieder zur Erde zurück. Die Wand ist zu glatt, es kann sich nicht festhalten. Ich lasse es den Aufstieg dreimal versuchen. Als es beim viertenmal wieder herunterfällt, zertrete ich es. Es fühlt sich weich an unter der Sohle. Was kann das sein? Ich knie nieder, um es mir anzusehen. Endlich erkenne ich, was es ist – ein riesiger Tausendfüßler, mehr als zwanzig Zentimeter lang und gute zwei Finger breit. Mich überkommt ein solcher Ekel, daß ich nicht imstande bin, den Kadaver aufzuheben und in den Kloeimer zu werfen. Ich stoße ihn mit dem Fuß unter die Pritsche. Ich werde ihn mir morgen bei Tageslicht genauer ansehen. Ich werde noch viel Zeit haben, mir Tausendfüßler

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