Papillon
anzusehen! Sie fallen von da oben, vom Dach, herunter. Ich werde es lernen müssen, sie über meinen Körper spazieren zu lassen, ohne sie zu fangen oder zu verjagen. Ich werde auch Gelegenheit haben, zu erfahren, wieviel Leiden mich ein einziger taktischer Fehler kosten kann, den ich mache, während sie über mich hinlaufen. Ein Stich dieses widerlichen Tieres kann bis zu zwölf Stunden Fieber erzeugen und brennt höllisch, sechs Stunden lang.
Das gibt auf alle Fälle eine Zerstreuung, eine Ablenkung von meinen Gedanken. Wenn wieder einer herunterfällt, und ich wache darüber auf, werde ich ihn mit dem Besen so lange wie möglich quälen oder mich damit amüsieren, ihn sich verstecken zu lassen, und ihn dann später suchen.
Eins, zwei, drei, vier, fünf… Totale Stille. Aber schnarcht denn hier niemand? Hustet hier niemand?
Wahrhaftig, die Hitze ist zum Ersticken. Und dabei ist es Nacht! Wie muß es erst bei Tag sein!
Es ist mir also bestimmt, mit Tausendfüßlern zusammenzuleben. Wenn das Wasser in dem Käfig unter dem Meer in Santa Marta stieg, kamen eine Menge von ihnen. Sie waren ganz klein, aber trotzdem von derselben Familie wie diese hier. In Santa Marta hat es zwar täglich Überschwemmungen gegeben, aber man konnte reden, rufen, singen. Oder man hörte die Schreie und das Irrereden zeitweiser oder endgültig Verrückter.
Wenn ich die Wahl hätte, würde ich Santa Marta wählen.
Das ist unlogisch, was du da sagst, Papillon. Da unten waren alle der Ansicht, daß ein Mann das höchstens sechs Monate aushaken kann – hier aber muß man es länger aushaken, vier bis fünf Jahre. Und sogar länger. Eines ist es, jemanden dazu zu verurteilen, ein anderes, ob er es auch aushält, wozu man ihn verurteilt hat.
Wie viele bringen sich hier wohl um? Blödsinn. Wie soll man sich hier umbringen? Das geht doch gar nicht.
Oder doch? Es wäre nicht ganz leicht, aber man könnte sich zum Beispiel erhängen. Man macht sich aus seiner Hose einen Strick, befestigt daran den Besen, steigt auf die Pritsche und wirft die Schnur da oben über eine dieser Eisenstangen. Der Posten oben wird die Schnur wahrscheinlich gar nicht bemerken. Und wenn er vorbei ist, baumelst du bereits im Leeren. Und wenn er zurückkommt, ist es aus mit dir. Er wird sich übrigens nicht beeilen, herunterzukommen, die Zelle zu öffnen und dich abzunehmen. Die Zelle öffnen? Das kann er nicht. Es steht doch an der Tür: »Diese Tür darf nur mit Erlaubnis der Direktion geöffnet werden.«
Dann ist also nichts zu befürchten. Wenn einer sich umbringen will, hat er genug Zeit dazu, bevor man ihn »auf höhere Weisung« herunterholt.
Alles, was ich hier niederschreibe, ist vielleicht für Menschen, die Aktivität und Tumult lieben, nicht sehr aufregend und interessant. Wenn ich sie langweile, dürfen sie diese Seiten überspringen. Diese Eindrücke und Gedanken überfielen mich jedoch bei meinem ersten Kontakt mit der neuen Zelle, und ich glaube, daß ich die Reaktionen der ersten Stunden meiner Grablegung so genau wie möglich schildern muß.
Ich marschiere noch lange Zeit. Nachts höre ich ein Gemurmel – die Wachablöse. Der erste war ein langer Dünner, jetzt ist es ein kurzer Dicker. Er hat einen schleppenden Gang. Man hört das schlurfende Geräusch seiner Pantoffeln zwei Zellen weit, vorher und nachher. Er ist nicht hundertprozentig leise wie sein Kollege, den er abgelöst hat. Ich wandere noch immer. Wie spät mag es sein? Morgen werde ich nicht mehr ganz ohne Zeitberechnung leben. Dank der vier Male, die sich das Fensterchen in der Tür täglich öffnet, werde ich ungefähr die Zeit wissen. Und wenn ich nachts einmal die Dauer der ersten Wache weiß, werde ich ein gutfunktionierendes Zeitmaß haben: erste, zweite, dritte Wache und so weiter.
Eins, zwei, drei, vier, fünf… Automatisch nehme ich die endlose Promenade wieder auf und enteile mit zunehmender Müdigkeit in die Vergangenheit. Ich sehe mich – wahrscheinlich als Kontrast zu der Finsternis in der Zelle – im vollen Sonnenschein auf dem Strand meines Stammes sitzen. Das Boot, mit dem Lali fischt, schaukelt zweihundert Meter vor mir auf der unvergleichlichen, opalgrünen See. Ich scharre mit den Füßen im Sand. Zoraima bringt mir einen fetten, über der Holzkohlenglut gegrillten Fisch, den sie in ein Bananenblatt gewickelt hat, um ihn warm zu halten. Ich esse ihn, mit den Händen natürlich, und sie sitzt mir mit gekreuzten Beinen gegenüber und schaut mir zu. Sie freut
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