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Papillon

Papillon

Titel: Papillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Charrière
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auskommt, ohne zu leiden. Um mich herum viele Selbstmorde und Ausbrüche von Wahnsinn. Glücklicherweise bringt man die Wahnsinnigen schnell weg. Es ist niederdrückend, sie schreien zu hören, ihr Klagen und Stöhnen, Stunden über Stunden, ja ganze Tage lang. Ich habe einen Trick gefunden, er ist an sich gut, aber schlecht für die Ohren. Ich schneide zwei kleine Stücke Seife ab und stopfe sie mir in die Ohren, um nicht die schauderhaften Schreie hören zu müssen. Unglücklicherweise entzündet das die Ohren, und nach zwei oder drei Tagen beginnen sie zu rinnen.
    Zum erstenmal seit ich im Kerker bin, erniedrigte ich mich zu einer Bitte an den Aufseher. Dieser Aufseher schenkt die Suppe aus und ist aus Montelimar, einem Ort in der Nähe von meinem Zuhause. Ich habe ihn schon in Royale gekannt, und jetzt bitte ich ihn, mir eine Wachskugel zu bringen, damit ich das Geschrei der Wahnsinnigen leichter ertragen kann, bevor man sie wegbringt. Am nächsten Tag hat er mir eine Wachskugel, groß wie eine Nuß, gebracht. Es ist eine unglaubliche Erleichterung, nicht mehr diese Unglücklichen schreien zu hören.
    Auf die Tausendfüßler habe ich mich schon trainiert. In diesen sechs Monaten wurde ich nur ein einziges Mal gebissen. Ich halte es aus, wenn einer beim Aufwachen morgens auf meinem nackten Körper herumspaziert. Man gewöhnt sich an alles, es ist nur eine Frage der Selbstkontrolle, denn das Krabbeln, das sie mit ihren Füßen und Fühlern hervorrufen, ist unangenehm. Aber wenn man sie nicht geschickt fängt, stechen sie. Daher ist es besser, abzuwarten, bis so ein Tausendfüßler von selbst wegkriecht, und ihn dann erst zu erschlagen. Auf meiner kleinen Betonbank liegen immer zwei, drei kleine Brotstückchen. Der Brotgeruch zieht sie an, und so zwinge ich sie, dorthin zu gehen. Dann töte ich sie.
    Ich muß eine fixe Idee vertreiben, die mich verfolgt. Warum habe ich nicht am selben Tag Bebert Gelier getötet, an dem der erste Verdacht auftauchte? So streite ich ununterbrochen mit mir selbst: Wann hat man das Recht zu töten? Am Ende komme ich dahin: Der Zweck heiligt die Mittel. Mein Ziel war eine geglückte Flucht, und ich hatte die Chance, ein gut gebautes Floß zu haben, es an einem sicheren Platz zu verstecken. Wegzukommen – das war nur noch eine Frage von Tagen. Da ich die Gefahr kannte, die Gelier für das vorletzte Holzstück, das wie durch ein Wunder rechtzeitig im Hafen gelandet war, bedeutete, hätte ich keinen Augenblick zögern dürfen, ihn kaltzumachen. Und wenn ich mich getäuscht hätte? Wenn der Anschein seiner unheilvollen Rolle getrogen hätte? Ich hätte einen Unschuldigen getötet – wie schrecklich!
    Aber es ist unsinnig, dir Gewissensprobleme aufzuhalsen, du bist ein Sträfling auf Lebenszeit – schlimmer noch, verurteilt zu acht Jahren Einzelhaft innerhalb der lebenslänglichen Strafe.
    Wofür hältst du dich eigentlich, du verlorenes Stück Abfall, den die Gesellschaft für einen Auswurf der Menschheit ansieht? Du möchtest wissen, ob dieser Stinkhaufen von Richtern, die dich verurteilt haben, sich auch nur ein einziges Mal gefragt hat, ob es tatsächlich und vor dem Gewissen recht war, dich so schwer zu verurteilen. Und ob der Staatsanwalt, für den ich mir noch nicht zu Ende ausgedacht habe, wie ich ihm einmal die Zunge herausreißen werde, ob der sich auch nicht einmal gefragt hat, daß er in seiner Anklagerede ein wenig zu weit gegangen ist. Selbst meine Verteidiger werden sich kaum mehr meiner erinnern. Sie werden sich höchstens in allgemeinen Redensarten ergehen über »diese unglückliche Sache mit Papillon« vor dem Militärgericht 1932. »… Wißt ihr, Kollegen, an jenem Tag, da war ich nicht recht in Form, und Gott weiß warum, der Hauptankläger Pradel hatte einen seiner besten Tage. Er hat den Fall auf unerhört elegante Weise im Sinne der Anklage entschieden. Das ist wirklich ein Gegner von hoher Klasse.«
    Ich höre das alles, als stünde ich neben Herrn Raymond Hubert während eines Gesprächs unter Advokaten oder bei einer mondänen Gesellschaft oder besser noch in den Gängen des Justizpalastes. Ein einziger nur kann sich darauf berufen, eine anständige, untadelige Position eingenommen zu haben: das ist der Gerichtsvorsitzende Bevin. Dieser unparteiische Mann kann sehr wohl unter Kollegen oder bei einer mondänen Gesellschaft die Gefahr diskutieren, die einem Mann durch seine Richter erwächst. Er wird selbstverständlich in sehr gewählten Worten sagen, daß so

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