Papillon
Anschlag, vervollständigen die Zeremonie. Der Kommandant und die Oberaufseher stehen dabei und schauen ohne ein Wort zu.
»Alles ausziehen!« schreit der Oberaufseher. »Die Sachen mitnehmen. Der erste. Dein Name?«
« X…«
»Mach den Mund auf, zeig die Beine. Ziehen Sie ihm die drei Zähne. Zuerst Jodalkohol, dann Methylblau, Löffelkrautsaft, zweimal am Tag vor der Mahlzeit.«
Ich bin der letzte.
»Dein Name?«
»Charrière.«
»Na so was! Du bist der einzige mit einem anständigen Körper. Bist du erst angekommen?«
»Nein.«
»Wie lang schon hier?«
»Achtzehn Monate heute.«
»Warum bist du nicht mager wie die andern?«
»Ich weiß nicht.«
»So, ich werde es dir sagen: Weil du besser frißt als die anderen, oder du onanierst weniger. Zeig den Mund, die Beine. Zwei Zitronen täglich: eine morgens, eine abends. Saug die Zitronen und betupfe auch mit dem Saft dein Zahnfleisch. Du hast Skorbut.«
Man reinigt mir das Zahnfleisch mit Jodalkohol, dann reibt man es mit Methylblau ein, und schließlich bekomme ich eine Zitrone. Halb kehrt, ich bin wieder der letzte der Kolonne und kehre in meine Zelle zurück.
Was eben geschehen ist, ist wahrhaftig eine Revolution. Die Kranken in den Hof hinausbringen, sie die Sonne sehen lassen, sie dem Doktor vorführen zur Untersuchung. Das hat es noch niemals in der Korrektionshaft gegeben. Was geht da vor? Ist es ein Zufall? Hat sich endlich ein Arzt geweigert, sich zum stillschweigenden Komplizen dieses herrlichen Reglements zu machen? Dieser Arzt, der später mein Freund sein wird, heißt Germain Guibert. Er ist in Indochina gestorben. Seine Frau hat es mir nach Maracaibo in Venezuela geschrieben – viele Jahre später.
Alle zehn Tage so eine Untersuchung in der Sonne. Immer das gleiche Rezept: Jodalkohol, Methylblau, zwei Zitronen. Mein Zustand verschlechtert sich nicht, aber er bessert sich auch nicht. Zweimal habe ich um Löffelkrautsirup gebeten, und zweimal hat es mir der Doktor verweigert, was mich sehr zu beunruhigen beginnt, denn ich kann noch immer nicht mehr als sechs Stunden täglich gehen, und meine Beine sind weiterhin aufgeschwollen und schwarz. Eines Tages, während ich darauf warte, vorgenommen zu werden, bemerke ich, daß der kleine rachitische Baum, unter dem ich mich ein wenig vor der Sonne schütze, ein Zitronenbaum ohne Früchte ist. Ich reiße ein Blatt ab und kaue es, dann breche ich mechanisch einen ganz kleinen Zweig mit einigen Blättern ab, ohne vorgefaßte Idee. Wie mich der Arzt aufruft, stecke ich mir den Zweig in den Hintern und sage ihm: »Doktor, ich weiß nicht, ob das von Ihren Zitronen kommt, aber schauen Sie einmal, was mir da hinten wächst.« Und ich drehe mich um und zeige ihm den kleinen Zweig mit seinen Blättern im Hintern.
Die Gammler brechen zuerst in Lachen aus, dann sagt der Oberaufseher: »Dafür werden Sie bestraft, Papillon, wegen Mangel an Respekt gegenüber dem Doktor.«
»Keineswegs«, sagt der Doktor, »Sie dürfen diesen Mann nicht bestrafen, denn ich beschwere mich nicht.
Willst du keine Zitronen mehr? Wolltest du das damit sagen?«
»Ja, Herr Doktor. Ich habe die Zitronen satt, sie heilen mich nicht aus. Ich möchte den Löffelkrautsaft probieren.«
»Ich habe dir keinen gegeben, weil ich davon sehr wenig habe und ihn für die Schwerkranken brauche. Ich werde dir trotzdem einen Löffel täglich verordnen und weiter die Zitronen.«
»Wissen Sie, Herr Doktor, ich habe Indianer Meeralgen essen gesehen. Es gab die gleichen in Royale. Es muß auch solche in Saint-Joseph geben.«
»Du gibst mir eine glänzende Idee. Ich werde euch jeden Tag eine gewisse Alge verabreichen lassen, die ich tatsächlich selbst am Meerufer gesehen habe. Wie essen sie die Indianer? Gekocht oder roh?«
»Roh.«
»Gut, danke. Und vor allem bestrafen Sie mir diesen Mann nicht, Herr Kommandant. Ich verlasse mich auf Sie!«
»In Ordnung.«
Ein Wunder war geschehen. Alle zehn Tage zwei Stunden in die Sonne hinausgehen dürfen zur Untersuchung, für die anderen das gleiche, Gesichter sehen, ein paar Worte murmeln. Wer hätte geträumt, daß eine so wunderbare Sache möglich sein würde? Es ist eine phantastische Wendung für uns alle: die Toten erheben sich und marschieren an die Sonne, die lebend Eingegrabenen können endlich einige Worte sprechen. Es ist eine Sauerstoffflasche, die jedem von uns neues Leben gibt.
Peng, peng, so schlagen an einem Donnerstagmorgen um neun Uhr plötzlich alle Zellentüren, peng, peng.
Jeder
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